Der zweite Teil von Tolstois „Auferstehung“ hat mich auf eine lange Berg- und Talfahrt geschickt: Es gab Phasen, da konnte ich nicht genug bekommen und habe mich immer wieder neu in die Themen und Erzählweise verliebt, konnte immer wieder Bande zwischen diesem und den beiden anderen Romanen Tolstois knüpfen. In anderen Momenten tat ich mich jedoch schwer mit „Auferstehung“. Es gab Kapitel, in denen ich das Gefühl hatte, dass es einfach nicht vorangeht. Irgendwann wurde mir jedoch bewusst, dass es eigentlich nicht das ist, was mich wirklich störte, sondern dass mir zwei zentrale Charaktere zu wenig sind für einen Tolstoi-Roman. In „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ verfolgte ich immer die Leben einer Vielzahl von Charakteren, die ihre ganz eigenen Sehnsüchte, Eigenheiten und Sorgen hatten. Das sorgte für Abwechslung und Lebendigkeit und ließ mich die Dinge von vielen verschiedenen Sichtweisen entdecken. In „Auferstehung“ hingegen konzentriert sich alles auf Nechljudow und die Maslowa. Das ist nichts Schlechtes, aber es ließ mich beim Lesen hin und wieder etwas vermissen.

Dennoch tauchte ich immer gern zwischen die Buchdeckel und der Beginn und das Ende des zweiten Teils zogen mich wie gewohnt in den Bann. Während Tolstoi zu Beginn des zweiten Teils einige seiner liebsten Themen aufgreift – die Situation der Bauern, der Besitz und die Verwaltung von Land – und damit eine Vertrautheit bei mir als Leserin erweckte, fesselte mich das Ende durch den eigentlichen Handlungsverlauf. In den letzten Kapiteln hat Tolstoi Szenarien geschaffen, die bestes Kopfkino auslösten. Besonders das Zwischenmenschliche, das sich sowohl in kleinen Gesten als auch in großen, folgenreichen Taten entfaltet, hat mich bewegt.

Überhaupt: Wenn es darum geht, was uns als Menschen ausmacht, was uns prägt, verändert und bewegt, ist Tolstoi ein Meister. Ob in „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“ oder nun in „Auferstehung“ – Tolstoi macht die inneren Prozesse und das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auf eine Weise erfahrbar wie kaum ein anderer. Charaktere, die mich als Leserin zu Beginn noch wütend machten oder Unverständnis weckten, werden plötzlich zu Sympathieträgern, mit denen ich leide, denen ich eine glücklichere Zukunft wünsche und vergebe (auch eines dieser wiederkehrenden großen Themen in Tolstois Romanen).

Dabei lässt uns Tolstoi wieder über alles Mögliche philosophieren und verschiedene Perspektiven einnehmen – egal, ob es um ethische Grundsatzfragen geht oder um gesellschaftliche oder politische Themen. Selbst wenn Tolstoi damalige Debatten um Haftstrafen aufgreift, zeigt sich, wie zeitlos sein Roman ist, denn die seinerzeit im Raum stehenden Fragen und Einwände bestehen noch heute – sei es der Vorwurf, dass Häftlinge dem Staat und damit dem Steuerzahler zu viel Geld kosten, oder die Frage danach, ob eine Haftstrafe einen Menschen nicht noch krimineller und gewaltbereiter macht.

„‚[…] Was für einen Sinn hat es aber, einen Menschen, der durch Müßiggang und schlechte Vorbilder verdorben ist, ins Gefängnis zu sperren, in Verhältnisse des gesicherten und obligatorischen Müßiggangs in Gesellschaft der verdorbensten Menschen? […] Diese Gefängnisse können unsere Sicherheit nicht gewährleisten, weil diese Menschen dort nicht ewig sitzen und man sie wieder freilässt. Im Gegenteil, in diesen Einrichtungen erzieht man sie erst richtig zu Laster und Unzucht, das heißt, man verstärkt ihre Gefährlichkeit.’“
(S. 476)

Das Traurigste sind jedoch nicht die eigentlichen Missstände an sich, sondern dass jegliche Kritik und jedwedes Hinterfragen oder Suchen nach Alternativen ignoriert, spöttisch belächelt oder als Spinnerei abgetan wird. Auch Nechljudow muss diese Erfahrung regelmäßig machen. Diese Begegnungen öffnen ihm jedoch nur noch mehr die Augen dafür, was alles falsch läuft und welche Ursachen dahinter stecken. Sie führen zunehmend dazu, dass Nechljudow die Aufgesetztheit der russischen Oberschicht zuwider ist und er seine Meinung immer resoluter verteidigt. Das zieht schließlich auch familiäre Konflikte nach sich, als Nechljudow mit seinem selbstgefälligen Schwager aneinandergerät.

Doch nicht alles in „Auferstehung“ ist bitterernst, denn hin und wieder lässt Tolstoi Bemerkungen fallen, die mich zum Schmunzeln bringen. Sei es nun Unverständnis gegenüber bestimmten Trends oder der Blick auf Heirat und Ehe.

So zeichnet Tolstoi wieder einmal ein detailliertes Portrait der Gesellschaft, deren Gebaren er mal ernst kritisiert und mal amüsant mokiert. Und wie Nechljudow verzweifelt man als Leser manchmal regelrecht an der Affektiertheit, Selbstverliebtheit und Ignoranz derer, die sich für den zivilisiertesten Teil einer Bevölkerung halten. Ob Nechljudow in seinem Kampf gegen das System und in seinen Bemühungen für mehr Gerechtigkeit noch große Erfolge verzeichnen wird? Das wird sich mir demnächst in Teil 3 offenbaren.