Zum ersten Mal seit Jahren ist die Vorweihnachtszeit für mich mit Trubel und Stress verbunden. Die letzten Tage stand ich nur unter Strom, zum Lesen kam ich gar nicht und so fühle ich mich momentan irgendwie ausgebrannt. Da es ab Montag bis zum Jahresende so weitergehen wird, habe ich dieses Wochenende kurzfristig zum Bücherwochenende erkoren und blende alles andere die nächsten zweieinhalb Tage einfach mal komplett aus.
Damit ich in eine Weihnachtsstimmung komme, die nicht von Terminhetzerei und Geschenken dominiert ist, greife ich zu dem Weihnachtskrimi „Geheimnis in Weiß“ – einen Roman des englischen Autors Joseph Jefferson Farjeon, der in dessen Heimat zwar bereits 1937 erschien, aber erst jetzt auch in einer deutschen Übersetzung vorliegt. „Geheimnis in Weiß“ entdeckte ich vor ein paar Wochen beim Stöbern nach Wichtelgeschenken. An hochwertig aufgemachten, in Leinen gebundenen Büchern wie diesem kann ich, wie ihr wisst, nur schwer vorbeigehen und so „musste“ ich einfach mehr über das Buch erfahren. Zwar zählen weder Weihnachtsgeschichten noch Krimis zu meinem bevorzugten Lesestoff, doch der Klappentext schaffte es trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) dieser Kombination, meine Neugier zu wecken – und das Anlesen der ersten Seiten beseitigte schließlich meine letzten verbliebenen Zweifel. Nun bin ich gespannt, ob sich dieses feine Büchlein aus dem Hause Klett-Cotta für mich tatsächlich als literarischer Schatz erweisen wird. Wie immer, werde ich euch darüber in mehreren Updates auf dem Laufenden halten.
Update 1 - Freitag, 19.30 Uhr
Sechs Kapitel liegen hinter mir und bisher fühle mich bestens unterhalten. Eine Sogwirkung hat die Geschichte zwar noch nicht entfaltet, aber es macht Spaß, sie zu lesen. Es ist ein wenig, als würde ich den Charakteren vom Sofa aus Popcorn naschend zusehen.
Eine kleine Gruppe von Menschen, die durch einen tagelangen Schneesturm scheinbar im Nirgendwo mit dem Zug stranden, ohne Aussicht auf baldige Weiterfahrt, entschließt sich, den Zug zu verlassen und zu laufen – vielleicht erreicht man ja den nächstgelegenen Bahnhof?! Eine utopische Hoffnung! Kaum sind unsere Protagonisten im Freien, zeigt sich, dass dieser Schneesturm nicht unterschätzt werden sollte. Doch irgendwie schaffen es die Reisenden zu einem Haus. Ein Haus, das verlassen ist, aber zugleich wirkt, als wären seine Bewohner soeben kurz vor die Tür gegangen: In den Kaminen brennen Feuer, auf dem Herd kocht Wasser und der Tisch ist eingedeckt. Doch da liegt auch ein Brotmesser auf dem Boden. Ist hier etwa ein Verbrechen passiert? Klar ist lediglich, dass im Haus etwas nicht stimmt, denn so manches sorgt für ein mulmiges Gefühl, eine Art böser Ahnung. Da ist zum Beispiel das dominante Porträt, dessen Augen die kleine, unfreiwillige Reisegesellschaft zu beobachten scheinen. Doch mangels Alternativen und angesichts der Tatsache, dass sie im Trockenen und Warmen sitzen, macht es sich unsere Gruppe bequem.
„Geheimnis in Weiß“ kommt hierbei nicht mit Schockern oder Eindeutigkeiten daher, auch wenn es so manches Element gibt, das man zur Genüge aus anderen Büchern und Filmen kennt und das zu gewissen Spekulationen verleitet. Langweilig wird es dadurch aber keineswegs. Für mich fühlt sich die Lektüre vielmehr wie eine Retro-Detektiv-Serie oder „Cluedo“-Spielen an. Die Atmosphäre ist dabei bislang auch wenig unheimlich, sondern fast schon amüsant. Das liegt vorrangig an den Charakteren, die grundverschieden sind und dadurch für die richtige Reibung, aber auch für Sympathien und eine gute Portion Humor sorgen – aber auch zu weiteren Spekulationen verleiten, denn der ein oder andere scheint nicht ganz der zu sein, der er vorgibt oder zumindest mehr zu wissen, als er wissen dürfte.
Eine besondere Stärke des Autors liegt im Einfangen menschlicher Eigenarten: Ob der besserwisserische Nörgler, der Blasse und Schüchterne, die selbstbewusste und schlagfertige junge Frau oder die launischen Menschen, die den ersten Schnee freudig wie Kinder erwarten, um selbigen nach zwei Tagen zu verfluchen – Joseph Jefferson Farjeon erweckt sie alle zum Leben. Das gelingt ihm nicht nur äußerst authentisch, sondern auch extrem pointiert in lediglich einer Handvoll Sätzen.
Update 2 - Samstag, 12.35 Uhr
„[…] Angenommen beispielsweise, unsere Gruppe hätte aus Ihnen, mir, David und noch zwei, drei anderen bestanden, die mehr wie wir sind. Wir hätten ein Team gebildet, uns amüsiert. Aber so ist hier jeder für sich. Wir passen nicht zusammen. […]“ (S. 83)
Die Aussage der mit eingeschneiten Lydia beschreibt treffend die Situation, in der sich unsere gestrandete Reisegesellschaft befindet. Jeder macht sein ein eigenes Ding – die einen liegen krank im Bett, manche zicken sich an, wieder andere bemühen sich um Normalität und ein Teil stellt sich Fragen und spielt Detektiv. Das sorgt für Dynamik und verschiedene kleine Einzelgeschichten. Auf diese Weise umkreisen wir all die Geheimnisse des Hauses und der einzelnen Charaktere, bis diese Kreise immer enger werden und schließlich fast explosionsartig zu einem Höhepunkt führen. Und ab da gelangt auch zunehmend mehr Licht in die einzelnen mysteriösen Dunkelheiten. Während ich das erste Drittel des Buches noch gemütlich und schmunzelnd im Lesesessel verbrachte, bin ich nun in der Mitte des Romans ganz wach und gebannt, will wissen, ob es wirklich so ist, wie vermutet oder doch ganz anders – und natürlich möchte ich auch wissen, wie sich die verbliebenen Fragen klären, was aus unserer eingeschneiten Reisegesellschaft wird und ob diese doch noch zu einem friedlichen Weihnachtsfest kommen.
Update 3 - 16.25 Uhr
„‚[…] Na, jedenfalls gingen wir durch die Hölle, und es war Weihnachten, wenn also der eine oder andere ein bisschen komisch war, na, wer konnte ihm das verdenken?'“ (S. 278)
Mit dieser Erkenntnis schließt „Geheimnis in Weiß“ und fasst damit ganz wunderbar das Wesentliche der Ereignisse, der Handlungen, Denkweisen und gezeigten Charakterzüge zusammen. Das Weihnachten in dem alten, eingeschneiten Haus war wahrlich außergewöhnlich und ereignisreich. Je mehr ich erfuhr, umso mehr wollte ich wissen und las die letzten 130 Seiten daher in einem Rutsch durch, gepackt von diesem regelrecht filmreifen Setting. Viele lose Fäden verbanden sich dabei zu einem großen Ganzen – und trotz so manchem allzu zufälligen Zufall gelangen diese Verknüpfung und Auflösung auf eine überzeugende, geschickte Art.
Vielen Dank, Mr. Farjeon, für die gute Unterhaltung!
Fazit
Großartige und vielschichtige Cosy Crime, die nicht nur den Fans von C. Auguste Dupin, Sherlock Holmes und Miss Marple spannende Lesestunden bescheren wird. Selbst so mancher Grinch dürfte an diesem Weihnachtskrimi Gefallen finden.
Geplauder