Es ist heute genau fünf Jahre her, dass es im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi (Fukushima 1) in Folge eines Erdbebens und eines Tsunamis zu Kernschmelzen und damit zur Freisetzung radioaktiver Strahlung kam. Es ist der größte nukleare Unfall seit jenem in Tschernobyl im April 1986. Neben dem Schock lösen die Ereignisse am 11. März 2011 internationale Proteste gegen Atomenergie aus und die Stilllegung von Kernkraftwerken bestimmt den politischen Diskurs. Es vergeht rund ein Jahr, in dem die Ereignisse in Fukushima und die Debatte um Atomenergie nahezu täglich die Berichterstattung der Medien bestimmen. Doch wie bei jeder Katastrophe ebbt auch hier das mediale und zum Teil auch das öffentliche Interesse allmählich ab. Indes ist in Fukushima und Umgebung eine Rückkehr zum einstigen Alltag nicht möglich. Aufräumarbeiter begeben sich täglich in die radioaktiv verstrahlte Zone, um zu bergen, zu de­kon­ta­mi­nie­ren, zu reparieren und abzubauen. Einer von ihnen ist Kazuto Tatsuta, ein bis dato wenig erfolgreicher Mangazeichner. Tatsuta lockt einerseits das Geld, das für die Arbeit in der Gefahrenzone versprochen wird, andererseits will er, der als Einwohner des Großraums Tokio jahrelang Strom aus Fukushima bezog, etwas zurückgeben. Einen Manga über die Arbeit in Fukushima hat er ursprünglich nicht im Sinn. Doch während seiner ersten Monate vor Ort verspürt er das Bedürfnis, seine Eindrücke künstlerisch festzuhalten und der Öffentlichkeit dadurch Einblicke in die gegenwärtige Situation in Fukushima 1 zu gewähren, die ihnen ansonsten nicht zugänglich wären. Um sich und seine Kollegen zu schützen, greift der Mangaka auf das Pseudonym Kazuto Tatsuta zurück, wobei er den Nachnamen einem Ort innerhalb der Sperrzone entlehnt.

Doch bis Tatsuta überhaupt dahin kommen konnte, war es ein langer Weg. Im Spätsommer 2011 beginnt Tatsuta, nach Jobs in Fukushima zu suchen – aber erst im Frühjahr 2012 tritt er eine Arbeit in der Sperrzone an. Stellenanzeigen für Jobs in dem zerstörten Kraftwerk gibt es zwar durchaus, doch stammen die meisten von dubiosen Firmen und existieren nur auf dem Papier. Hinzu kommt, dass mit den Aufräumarbeiten eine lange Kette von (Sub-)Unternehmen betraut ist. Das bringt gleich mehrere Ärgernisse mit sich: Tatsuta und andere Männer werden eingestellt, obwohl es noch keinen offiziellen Auftrag gibt, und sitzen daher zunächst mehrere Wochen lang nichts tuend herum – sie verdienen kein Geld, müssen aber bereits für ihre an den Job gebundene Unterkunft und Verpflegung zahlen. Als sie schließlich ihre Arbeit in Fukushima 1 – von den Mitarbeitern und Anwohnern rund um die Sperrzone nur 1F genannt – antreten, müssen sie feststellen, dass ihr Arbeitgeber am Ende der Kette der Subunternehmer steht und von dem usprünglich versprochenen, verlockend hohen Entgelt nur noch ein Bruchteil in ihren Taschen landet. Damit sind sie keine Ausnahme: Ein Großteil der Arbeiter ist zu ähnlichen Bedingungen angestellt. Wirklich gutes Geld verdienen nur diejenigen Aufräumarbeiter, die direkt mit Aufgaben in den Reaktorblöcken betraut sind. Genau dorthin möchte auch Kazuto Tatsuta, der in den ersten Wochen lediglich als eine Art Hausmeister in den Pausenräumen beschäftigt ist. Hier ist er verantwortlich dafür, dass ausreichend Wasser und Schutzkleidung vorhanden sind, dass die Klimaanlage und die Generatoren funktionieren und der Pausenbereich ausreichend isoliert ist. Natürlich ist sich Tatsuta bewusst, dass auch diese Aufgaben erledigt werden müssen, doch eigentlich möchte er mehr tun, möchte sich aktiver an der eigentlichen Schadensbehebung beteiligen. Dies wird ihm auch gelingen – wie, erfährt der Leser im ersten Band von Tatsutas Ichi-Efu-Trilogie* jedoch noch nicht. Auch wartet der Mangaka in seinem Auftaktband nicht mit großen Skandalen auf. Darum geht es ihm allerdings auch nicht. Vielmehr will er zeigen, wie der Alltag der Aufräumarbeiter aussieht. Wir erfahren, wie aufwändig sich das Anlegen der Schutzkleidung gestaltet, wie heiß es darin selbst im Winter ist und welche kleineren und größeren Probleme die Arbeit darin mit sich bringt, beispielsweise wenn die Nase juckt oder die Masken zu straff gezogen sind. Durch Infografiken und detaillierte Szenen führt Kazuto Tatsuta uns in die Schutzmaßnahmen zur Vermeidung einer Kontaminierung der Mitarbeiter ein: Dienstfahrzeuge, deren Innenraum vollständig mit Folie abgeklebt ist; mehrere Schichten Schutzkleidung, von denen nahezu alles Wegwerfstücke sind, die letztlich Unmengen kontaminierten Müll produzieren; ständiges Entseuchen von Dienstwagen; mehrmals tägliches Messen der aufgenommenen radioaktiven Strahlung … In diesem Zuge versucht Tatsuta auch, Falschmeldungen von Journalisten zu widerlegen oder zumindest zu Teilen zu entkräften. Aber der Mangaka zeigt auch, dass er und seine Kollegen zwar in einer Gefahrenzone arbeiten, die Arbeit selbst jedoch durchaus eine angstfreie Routine und Alltäglichkeit hat. Die Arbeiter in 1F scherzen genauso wie Arbeiter andernorts über die Arbeit, das Leben und über einander, sie beschweren sich genauso über schlechte Arbeitsbedingungen und legen sich in den Pausenräumen gelegentlich sogar aufs Ohr. Sie wissen, dass ihre Arbeit außergewöhnlich hart und von hoher Wichtigkeit ist, aber für sie ist es trotz allem einfach nur ein Job.

„Ich möchte nicht behaupten, dass 1F ein behaglicher und sicherer Arbeitsplatz gewesen wäre. Es wird noch lange ein gefährlicher Ort bleiben, an dem jeder falsche Schritt in einer weiteren Katastrophe enden kann. Aber deswegen arbeiten wir ja hier, um ihn sicherer zu machen.“
(S. 178)

Tatsuta schildert die Zeit in 1F in seinem dokumentarischen Manga differenziert und weitestgehend wertfrei. Er gibt wieder, was er beobachtet und erlebt hat, ohne sich dabei jedoch auf eine bestimmte Seite zu stellen. Er führt auf, was bei den beteiligten Firmen schief lief, stellt jedoch auch klar, dass sich seit seiner Zeit in Fukushima etliches geändert haben könnte und klärt auf, wenn er in den Medien gefundene Vorwürfe gegen Tepco oder die Arbeiten vor Ort nicht bestätigen kann. „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“ kommt entsprechend sachlich daher, ist eher journalistischer als erzählender Natur. Auch erwarten den Leser keine geradlinig erzählte Geschichte, sondern mehrere, nicht chronologisch aufeinanderfolgende Epsioden mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten. Dabei kommt es leider hin und wieder zu Redundanzen, wenn Schilderungen zu Abläufen oder Vorschriften in mehreren Kapiteln wiederholt aufgegriffen werden. Doch bezogen auf die Gesamtlektüre ist das ein vernachlässigbarer Kritikpunkt.

Fazit:

Kazuto Tatsuta ist mit „Reaktor 1F“ ein informativer, inhaltlich wie visuell sehr detailgetreuer Manga gelungen, der bewusst macht, wie aufwändig die Aufräumarbeiten in Fukushima sind, und der damit vor Augen führt, dass nicht nur Japan, sondern uns alle die Folgen der Katastrophe vom 11.03.2011 noch lange begleiten werden.

„Die Leute haben gut reden, wenn sie sagen, hier würde nicht viel geschehen. Ein havariertes Atomkraftwerk lässt sich eben nicht von heute auf morgen in Ordnung bringen.“
(S. 54)

*Ichi Efu entspricht dem japanischen Ausdruck für 1F

Kazuto Tatsuta: „Reaktor 1F – Ein Bericht aus Fukushima“ (Ichi Efu #1), aus dem Japanischen übersetzt von Jens Ossa, Carlsen Manga 2016, ISBN:978-3-551-76107-1