Graphic Novel-Adaptionen von Klassikern sind etwas Wunderbares: Wer das Original noch nicht gelesen hat, kann sich durch die Comicversion zunächst an den Stoff herantasten und wird sich bei Gefallen höchstwahrscheinlich noch der ursprünglichen Geschichte widmen, was den Klassikern ein kleines Revival bescheren kann; wer den Klassiker hingegen schon kennt, dem bieten Graphic Novels einen ganz neuen Zugang, vielleicht sogar eine neue Perspektive und neue Interpretationsansätze. Im Falle von „Moby Dick“ reihe ich mich in die erste Gruppe ein. Die Geschichte um Kapitän Ahab, der regelrecht besessen davon ist, den großen weißen Wal zu fangen und für dieses Ziel sogar bereit ist, das Leben seiner Mannschaft zu opfern, hatte mich bislang nie genug reizt, um mich Herman Melvilles Roman zu widmen. Zwar war ich nicht uninteressiert, doch die Neugier reichte nicht aus, um mich dem Wälzer in seiner ungekürzten Form zu widmen, insbesondere da Melvilles Buch allzu oft für Längen und Abschweifungen kritisiert wurde. Eine gekürzte Romanfassung kam für mich indes nie Frage. So schob ich die Auseinandersetzung mit „Moby Dick“ viele Jahre vor mir her. Als ich dann vor wenigen Monaten von Olivier Jouvrays und Pierre Alarys Comicversion erfuhr, sah ich daher die ideale Möglichkeit, die Geschichte um die Besatzung der Pequod zu erfahren, ohne mich dabei gleich für  mehrere Hundert, eventuell enttäuschende Seiten zu verpflichten. Nun, nach der Lektüre der Graphic Novel, kann ich nicht anders, als alsbald Melvilles Original zu lesen! Denn ich als Leserin wurde in die Geschichte hineingesogen wie die Schiffe in den Malstrom. Jouvray und Alary zeigen in „Moby Dick“ ihr Talent für atmosphärische Bilder. Sie machen sich die Farbtemperaturen des Lichtes zunutze, fangen es in ihren Panels ein und verleihen so jeder Szene einen eigenen Charakter. Bereits auf den ersten drei Seiten fühlte ich die Sonnenstrahlen auf meiner Haut, spürte das wogende Meer unter mir und hörte in der Ferne die Möwen schreien – natürlich gibt es so weit auf dem offenen Meer gar keine Möwen, doch die von Pierre Alary gezeichneten Bilder mit ihren fast schon cineastischen Ausschnitten und Perspektiven sowie den lebendigen Mimiken der Figuren lassen die Geschichte vor dem (geistigen) Auge wie einen Film abspielen.

Neben der optisch famosen Umsetzung kann „Moby Dick“ aber auch dramaturgisch überzeugen. Dem für Adaption und Text verantwortlichen Olivier Jouvray ist es gelungen, die Handlung aufs Wesentliche herunterzubrechen, ohne dass dies auf Kosten der Figuren oder Spannung geht. In Jouvrays und Alarys Graphic Novel gibt es kein Bild, das zu viel ist – die Handlung bleibt durchgängig am Laufen, gleichzeitig wird genug Raum gegeben, um den Leser in die einzelne Settings einzuführen und mit den Charakteren vertraut zu werden. Ob Matrose Ismael, Harpunier Queequeg, Offizier Starbuck oder Kapitän Ahab – Jouvray widmet jedem von ihnen genug Szenen, in denen der Leser sie kennenlernen kann, und verleiht ihnen eine Tiefe, die ich diesem Ausmaß in Comics selten erfahren habe. Nach den nur 123 Seiten der Graphic Novel hatte ich das Gefühl, Ismael, Queequeg, Starbuck und Ahab besser zu kennen als so manche Charaktere aus 500-Seiten-Romanen! Queequeg, der menschgewordene Fels in der Brandung, und Starbuck, der sich als Einziger offen gegen Ahabs Verhalten ausspricht, schloss ich in dieser kurzen Zeit besonders in mein Herz und nur zu gern hätte ich ihre persönlichen Lebensgeschichten vor der Jagd auf Moby Dick erfahren. Als die 123. Seite umgeblättert war, fiel mir der Abschied demnach trotz der Grausamkeit der Waljagd und der Skrupellosigkeit Ahabs schwer. Ich will zurück aufs Meer, noch einmal mit Ismael, Queequeg und Starbuck segeln – und das werde ich auch, allerdings für ein paar hundert Seiten mehr und unter Führung von Hermann Melvilles Worten. Jouvray und Alary bleibt an dieser Stelle daher mein Dank dafür, dass sie mir die atemberaubende Geschichte um Kapitän Ahab und den weißen Wal nahegebracht und in mir eine leidenschaftliche Neugier auf das Original entbrannt haben. Merci!

Fazit:

Eine optisch wie inhaltlich grandios in Szene gesetzte Adaption des Melville-Klassikers, die sich neuen wie alten Mitreisenden der Pequod gleichermaßen anbietet.

Olivier Jouvray & Pierre Alary: “Moby Dick (Frei nach Herman Melville)”, in Zusammenarbeit mit Didier Gonord, aus dem Französischen übersetzt von Swantje Baumgart, SPLITTER Verlag 2014, ISBN: 978-3-95839-043-0