Es gibt Bücher, die wunderbar sind, aber nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdienen. Ein solches Buch ist Laurie Halse Andersons „Chains“. Der Roman spielt während des Unabhängigkeitskrieges der USA und erzählt die Geschichte des Sklavenmädchens Isabel. Nach dem Tod ihrer ursprünglichen Herrin sollten sie und ihre kleine Schwester Ruth laut Testament frei sein. Doch die Hoffnung wird alsbald zerstört, denn der Sohn der Herrin hat andere Pläne mit den Mädchen: Er verkauft sie an das Ehepaar Lockton, welches Isabel und Ruth in das Anwesen in New York City nimmt. Von nun an wird den Schwestern das Leben durch die eiskalte Mrs. Lockton zur Hölle gemacht. Doch Isabel gibt nicht auf – sie versucht alles, um sich und ihrer Schwester die versprochene Freiheit zu schenken; beginnt ihren eigenen Kampf um Unabhängigkeit. Zur Seite steht ihr dabei der Sklavenjunge Curzon. Schon bald wird Isabel dadurch auch zum Teil des großen Bürgerkrieges, indem sie die Locktons ausspioniert, die auf der Seite der Britischen Krone stehen und mit anderen eine kleine Verschwörung am Laufen haben. Immer mehr gerät Isabel dadurch in Gefahr. Doch sie riskiert alles – erst recht, nachdem Mrs. Lockton dafür gesorgt hat, dass Isabel von Ruth getrennt wird.

Laurie Halse Anderson hat unglaublich viele Themen und vor allem viele Handlungen in ihre Geschichte gepackt. Doch dabei gelang ihr das, was in so einem Fall wenigen Autoren gelingt: Nichts kommt zu kurz, nichts wird verwirrend oder chaotisch. Halse Anderson schafft genau die richtige Mischung und Balance. Die Geschichte bleibt durchgehend spannend und unvorhersehbar. Der Leser fiebert unaufhörlich mit. Das liegt zum einen an den großartigen Handlungssträngen, zum anderen an den Charakteren. Isabel ist ein so wunderbarer Mensch – großherzig, klug und vor allem willensstark und unermüdlich, wenn es um ihre Schwester geht. Selbstlos tut sie alles für die kleine Ruth, steht sogar für deren Fehler gerade und immer, wenn alles hoffnungslos scheint, zieht Isabel Kraft daraus, dass es Ruth besser gehen soll. Isabel ist gleichzeitig Erzähler des ganzen Geschehens. Entsprechend vertraut wird man mit ihr, leidet und fühlt mit, hofft, dass die Geschichte ein gutes Ende für die Schwestern, aber auch für Curzon nimmt. Der Sklavenjunge wickelt den Leser ebenso mit seinem Charme um den Finger wie Isabel. Witzig, aufrichtig und smart ist er, dazu noch ein Freund, wie man ihn sich nur wünschen kann. Bereits nach seinem ersten, recht kurzen Auftritt im Buch entwickelt sich eine Sympathie für Curzon und man spürt, dass er für Isabel und den Verlauf der Handlung noch sehr wichtig wird. Umso erfreulicher ist, dass es eine Fortsetzung zu „Chains“ gibt: „Forge“ erzählt, wie es mit Isabel und Curzon weitergeht, wobei er dieses Mal im Fokus der Geschichte stehen soll.

Auch die anderen Charaktere sind gut skizziert, eine eindeutige Kategorisierung in „Gute“ und Böse“ ist – außer bei Isabel, Ruth, Curzon und Mrs. Lockton – nicht möglich. Denn selbst Mr. Lockton hat Wesenszüge, die Mitleid oder gar Sympathie beim Leser erwecken. Neben den Figuren und den Handlungen überzeugt „Chains“ zudem durch den Umgang mit der historischen Thematik. Ganz nebenbei wird dem Leser ein vielschichtiger Einblick in den Unabhängigkeitskrieg gewährt. Laurie Halse Anderson zeigt Aspekte auf, die vor allem bei der Behandlung des Stoffes im Schulunterricht unterschlagen werden: Wird in deutschen Schulen stets nur auf die Jahre zuvor stattfindende Boston Tea Party, die Unabhängigkeitserklärung 1776 und die Differenzen zwischen Großbritannien und den Kolonien in Nordamerika eingegangen, wird vor allem den deutschen Lesern so ein viel tieferer Einblick in die Ereignisse gewährt, beispielsweise die Unruhen innerhalb Nordamerikas und die Tatsache, dass eben nicht alle Amerikaner die Loslösung von Großbritannien wollten. Und wer weiß schon, dass sogar Deutsche (genauer gesagt: Hessen) in den Unabhängigkeitskrieg involviert waren? Vermutlich nur die Wenigsten.

„Chains“ hat seinen Lesern viel zu bieten. Um so verwunderlicher und bedauernswerter ist, dass das Buch drei Jahre nach der Erstveröffentlichung im Jahr 2008 noch immer nicht in deutscher Übersetzung erhältlich ist!

Fazit:

Laurie Halse Anderson hat mit „Chains“ einen großartigen und vielschichtigen Roman geschrieben. Packend, bewegend, authentisch und informativ zugleich. „Chains“ hat einfach alles, was ein gutes Buch ausmacht: Einen hervorragenden Erzählstil, greifbare und sympathische Charaktere, eine interessante und vor allem vom Buchmarkt noch nicht ausgereizte Thematik, das richtige Maß an Wendungen, Ereignissen und Gefühl sowie eine konsequent aufrecht erhaltene Spannung. Es wird Zeit, dass auch der deutsche Markt diesen Bücherschatz endlich für sich entdeckt!