Wir schreiben das Jahr 2048 und während die ganze Welt so modern und technologisiert ist wie nie zuvor, gibt es einen Ort, an dem die Zeit zurückgedreht wurde: Mitten in London hat die Buckland Corporation einen riesigen Themenpark errichtet – „Pastworld“, eine Stadt in der Stadt, ein Ort, an dem alles ist wie im 19. Jahrhundert. Hier fahren Kutschen statt Autos, es gibt keine Handys, kein Fernsehen, und es gelten die Gesetze der damaligen Zeit. Alles ist originalgetreu und doch nicht echt, denn um alles so authentisch wie möglich zu machen, gibt es künstliche Ratten, künstlichen Nebel und sogar einen künstlichen Himmel, auf welchen Tag und Nacht samt Sternenbilder einfach projiziert werden. Mitten in dieser Welt wächst die junge Eve heran – überbehütet von ihrem fast blinden, liebevollen und sich stets sorgenden Ziehvater Jack. Doch eines Tages droht Gefahr. Eve erfährt, dass jemand auf der Suche nach ihr ist. Sowohl sie als auch Jack sind nicht mehr sicher. Doch wer dieser jemand ist, das verrät ihr Ziehvater ihr nicht. Um ihn und sich zu schützen, fasst Eve einen Entschluss: Sie flieht. Aber ihre Verfolger sind ihr schon dicht auf den Fersen. Schutz findet Eve schließlich bei einem Zirkus – Artist Jago nimmt sie in seine Obhut auf und ersetzt ihr den Vater.
Zur gleichen Zeit besucht Caleb mit seinem Vater, einem der Gründer „Pastworlds“, den Themenpark. Auf dem Weg zu einer Halloweenparty geraten sie gemeinsam mit Eves Ziehvater Jack in einen Hinterhalt. Jack wird ermordet und Calebs Vater entführt. Die Täter bezichtigen Caleb in der Öffentlichkeit des Mordes. Ihm bleibt nur die Flucht. Einsam und hoffnungslos läuft er apathisch durch die nebelverhangenen Straßen. Dort findet ihn schließlich der Taschendieb BibleMac und nimmt sich seiner an. Er sorgt dafür, dass Caleb in Sicherheit kommt – in Sicherheit vor der örtlichen Polizei und der drohenden Todesstrafe, aber auch in Sicherheit vor dem Phantom.
Das Phantom treibt seit langem sein Unwesen in „Pastworld“. Er ist berüchtigt für seine brutalen Morde, die denen des berühmten Jack the Ripper nachempfunden sind. Doch sein eigentliches Ziel ist Eve. Denn sie, Caleb und das Phantom sind sich nicht nur äußerlich sehr ähnlich – alle drei haben diese leuchtenden türkisblauen Augen -, sie verbindet auch ein großes Geheimnis …
„Pastworld“ bietet eine Geschichte, die es so bisher noch nicht gab, eine Geschichte, die sich stark von der gängigen Jugend- und Fantasyliteratur abhebt und damit auch sehr erfrischend wirkt. Ian Beck gelingt es dabei sehr gut, die Atmosphäre des Parks und damit des 19. Jahrhunderts zu transportieren. Bei jeder Seite sieht man die dunklen Gassen, die altmodischen Laternen und den dichten Nebel vor seinem geistigen Auge. Eine Atmosphäre, die nicht nur jedem Leser des Buches, sondern jedem London-Liebhaber eine Gänsehaut bereiten wird. Eine Atmosphäre, die die Gefahren im Park unterstreicht und so die ganze Geschichte viel greifbarer macht. Allein schon wegen dieser beim Lesen entstehenden Stimmung und der Darstellung des Themenparks lohnt sich dieses Buch. Denn trotz aller Gefahren, die in dieser Welt drohen, kommt man nicht umhin, sich zu wünschen, dass es „Pastworld“ wirklich gäbe!
Allerdings wäre es spannend gewesen, wenn Beck auch das Leben im Jahr 2048 näher beschrieben hätte, damit der Leser sich ein besseres Bild von der Welt machen kann, aus der Caleb kommt. Der Kontrast zwischen der alten Themenpark-Welt und der neuen realen Welt wäre so viel besser zum Vorschein gekommen. Sicher hat Caleb mit einigen Dingen zu kämpfen, so ganz ohne den Luxus der modernen Technik – diesen Umstand und Calebs Erfahrungen damit wären interessant gewesen, kommen jedoch so leider zu wenig herüber.
Die Geschichte an sich ist gut durchdacht. Beck schafft es, durch gelegentliche kleine Hinweise und Bemerkungen die Spannung und Neugierde des Lesers aufrecht zu erhalten. Mit jeder weiteren Andeutung und Information wünscht man sich umso mehr, endlich zu erfahren, was nun hinter allem steckt, was das Geheimnis ist, welches Eve, Caleb und das Phantom verbindet. Und schon früh wird deutlich, dass die Lösung bzw. das Thema ganz anders ist, als man es nach dem Klappentext vermuten könnte, dass die Geschichte sich um weit mehr dreht, als nur um eine tödliche Gefahr für Eve und Caleb.
Eve und Caleb sind die eigentlichen Protagonisten, dennoch bleibt das ganze Buch über eine ziemliche Distanz zwischen ihnen und dem Leser. Es ist schwer, sich richtig in sie hineinzuversetzen – die ganze Zeit hat man das Gefühl, sie nur von außen zu betrachten, so wie man auch seine Mitmenschen betrachtet: Man erkennt ihr Wesen, aber trotzdem nicht ihre ganzen inneren Beweggründe und Gefühle. Davon abgesehen ist Caleb die ganzen 395 Seiten über sehr wehleidig. Er vergräbt sich in Mitleid um sich und seinen Vater und lässt alles an sich vorbüber ziehen, lässt alles mit sich geschehen und ist ziemlich passiv. Es ist zwar nachvollziehbar, dass er sich schlecht und einsam fühlt, nachdem was ihm in der Halloweennacht zugestoßen ist, jedoch ist verwunderlich, dass Caleb nicht versucht, zu kämpfen, sich nicht auf die Suche nach seinem Vater begibt, sondern doch recht gleichgültig weiterlebt.
Die Nebencharaktere erscheinen da schon vielschichtiger und authentischer, wenn auch die vielen Polizisten schwer auseinander zu halten sind, da sie nur wenig beschrieben werden und sehr blass bleiben. BibleMac hingegen kann als eigentlicher Sympathieträger gelten. Denn obwohl er als Taschendieb durch die Straßen streift, hat er eigentlich ein sehr gutmütiges Herz. Er kann Kinder und Jugendliche nicht leiden sehen, hilft wo er nur kann und tut alles für seine Freunde. Hinzu kommt seine ständige gute Laune – kaum etwas kann ihm die Freude am Leben nehmen und das wirkt auch ansteckend auf den Leser. Es fällt nicht schwer, zu glauben, dass BibleMac schnell Freundschaften schließt – mit seiner offenen, freundlichen und geselligen Art wirkt er sehr sympathisch. BibleMac ist die Art von Freund, mit dem man die sprichwörtlichen Pferde stehlen kann. Genau wie der ebenfalls herzensgute Artist Jago lockert die düstere Atmosphäre ein wenig auf.
„Pastworld“ ist leicht und sehr flüssig geschrieben. Es gibt keine langatmigen oder holprigen Stellen und das Buch ist somit schnell weggelesen. Für Abwechslung sorgen dabei die Erzählformen: So ist die Geschichte nicht permanent aus der dritten Person geschrieben, sondern es fließen auch Passagen aus Eves Tagebuch ein. Weiterhin finden sich Auszüge aus Akten, aus dem „Kleinen Planetenführer“ (einer Art Anleitung für den Besuch in „Pastworld“), Handzettel und andere Dokumente. Dabei variiert Beck immer mit dem Schreibstil – Eves Tagebuch ist gelegentlich sehr naiv und simpel geschrieben, die Akten und Polizeiberichte dagegen sehr sachlich. Dieses Spiel mit den Schreibstilen ist Beck wunderbar gelungen und das Lesen macht so noch mehr Spaß. Gleichzeitig erhält der Leser viele Informationen und ist Eve und Caleb damit nicht selten einen Schritt voraus.
Der Themenpark „Pastworld“ wird gut greifbar gemacht und erscheint sehr real, nur gelegentlich sind einige Dinge drin, die so nicht ins viktorianische Zeitalter gehören: Beispielsweise benutzt Eve Begriffe wie „Freak“ oder „Slow Motion“ – Wörter, die erst ein Jahrhundert später im Wortschatz der Menschheit auftauchen. War dies nun vom Autor gewollt, um zu verdeutlichen, dass „Pastworld“ durch seine vielen Besucher doch nicht ganz viktorianisch bleiben kann? Oder war es einfach nur Unachtsamkeit des englischen Schriftstellers?
Von Ian Becks Arbeit einmal abgesehen, darf man eines nicht außer Acht lassen: Cover und Gestaltung der deutschen Ausgabe, denn diese hat zurecht viel Lob verdient! Das Cover vereint mit seiner silbernen Glanzschrift und dem veralteten, abgegriffen Look wunderbar die Moderne und die Vergangenheit der Geschichte. Gleichzeitig hebt es sich deutlich von all den gegenwärtigen Covern ab und wird leicht zum Blickfing im Buchladen. Das abgebildete Motiv – Eve und das Phantom in einer nebelverhangenen Gasse – transportiert wunderbar die Atmosphäre des Themenparks bzw. des alten London und verbreitet sofort die düstere, etwas unheimliche Stimmung. Auch im Inneren wurde viel gestaltet: Es gibt wunderbare Abbildungen von Flyern und Plakaten, diverse Schriftarten und andere gestalterische Elemente, die dem Leser so alles noch anschaulicher machen. Viele Dinge aus der Geschichte werden so hervorgehoben und betont. Gleichzeitig ist alles wunderbar auf Ian Becks Stil und die „Pastworld“-Welt abgestimmt – all das , was dem Autor mit seinem Schreibstil gelungen ist, wie z. B. das Aufbauen der Atmosphäre, unterstreicht das Layout noch einmal zusätzlich und macht das Lesen so zu einem Genuss fürs (geistige) Auge. Eine so umfangreiche Gestaltung wünscht man sich bei viel mehr Büchern!
Fazit:
Ian Becks „Pastworld“ glänzt vor allem durch den Themenpark selbst – auf jeder Seite kann der Leser die Atmosphäre und den Geist des viktorianischen London fühlen. Genau wie die Touristen von „Pastworld“ glaubt man, in die Vergangenheit gereist zu sein. Allein dies macht das Buch spannend – nicht nur für jugendliche oder Fantasy-Leser, sondern auch für alle Liebhaber der britischen Hauptstadt. Zu gern würde man am liebsten in das Buch hineinspringen, um selber einmal die hier vorgestellte Welt zu erleben.
Dem Leser wird sowohl sprachlich als auch gestalterisch viel Abwechslung geboten und die Idee der Geschichte ist endlich einmal etwas gänzlich anderes, als das, was gegenwärtig den Büchermarkt beherrscht und bringt so den lang ersehnten frischen Wind.
Für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares bedanke ich mich vielmals bei Loewe!
Geplauder