Die Geschichte von Siegfried  dem Drachentöter und dem Schatz der Nibelungen hat wohl jeder schon einmal gehört. Unter dem Namen „Nibelungenlied“ wurde sie hier in Deutschland bekannt.

Im vergangenen Jahr veröffentlichte nun Christopher Tolkien, der Sohn von J. R. R. Tolkien, eine Version dieser Saga aus der Feder des „Herr der Ringe“-Autoren, die er in dessen Nachlass entdeckte. Im August erschien dieses Werk nun auch auf Deutsch.

Tolkien hat sich tiefgehend mit der Völsunga-Saga, der Edda, dem Nibelungenlied und dem Codex Regius – den verschiedenen Versionen der Legende – auseinandergesetzt und daraus eine neue gemacht, die seines Erachtens nach am nächsten an der Wahrheit bzw. der ursprünglichen Geschichte sein könnte. Natürlich hat er hier nicht einfach nach Gutdünken entschieden, sondern gründlich recherchiert und jede Entscheidung gut begründet, wie aus den umfangreichen Hintergrundinformationen innerhalb der Ausgabe deutlich wird.

Gleichzeitig hat Tolkien versucht, die Lücke in der Geschichte zu füllen:  Denn was geschieht, nachdem Sigurd (die nordische Variante des Siegfried aus dem Nibelungenlied) den Drachen getötet und Gudrun (im Nibelungenlied ist es Kriemhild, die hier und den nordischen Versionen aber die Mutter von Siegfrieds Frau ist) geheiratet hat, war nicht mehr überliefert.  Die Erzählungen setzten erst an der Stelle wieder ein, als Brynhild (Brunhilde im Nibelungenlied) Gudruns Bruder Gunnar (Gunther im Nibelungenlied) dazu anstiftet, Sigurd zu töten. Für diesen fehlenden Part hat Tolkien eine gut nachvollziehbare Geschichte entwickelt, die sich so tatsächlich zugetragen haben könnte.

Die Sage ist in Versen verfasst. Hierfür bediente sich Tolkien den altenglischen Stabreimen. Während des Lesens entsteht der Eindruck, als würde die Erzählung bzw. der Erzählstil nicht aus der Feder eines Autoren des 20. Jahrhunderts kommen. Denn nicht nur die Verse wirken wie bei mittelalterlichen Werken im Stile Shakespeares, sondern auch der sprachliche Ausdruck wirkt, als hätte Tolkien in der damaligen Zeit gelebt. Zugegeben mit diesem Unterfängen hätte Tolkien wie jeder andere Autor sehr leicht scheitern können, denn so zu schreiben und sich noch dazu an das entsprechende Versmaß zu halten, ist eine Kunst, die alles andere als leicht ist. Doch es ist ihm gelungen, sehr gut sogar. Hier zeigt sich, was für ein großartiger Schriftsteller und auch Dichter Tolkien doch war! Die Verse sind so harmonisch und melodisch, dass es einen davon trägt, zurück in die Vergangenheit. Natürlich ist es nicht immer einfach zu verstehen, gerade am Anfang braucht es ein wenig Zeit, um sich an diesen Stil zu gewöhnen. Aber diese literarische Form ist durch ihre Andersartigkeit (verglichen mit heutigen Werken) etwas Besonderes und bietet einen außergewöhnlichen Lesegenuss. „Die Legende von Sigurd und Gudrún“ kann man nicht einfach so eben weglesen, man muss sich regelrecht auf darauf einlassen.

Bevor man jedoch zur eigentlichen Geschichte kommt, muss der Leser sich erst einmal durch Vorbemerkungen und Informationen wälzen. 72 Seiten drehen sich nur um die Hintergründe zur Sage, zu diesem Buch und zur Übersetzung. Nicht selten ist dies ein wenig zäh und erinnert an die wissenschaftlichen Bücher, mit denen man während eines Studiums zu kämpfen hat. Doch Durchhalten lohnt sich! Denn viele der Informationen sind wichtig, um die Geschichte verstehen zu können. Und nicht selten wird dies einem während des Lesens der Geschichte bewusst.

Fazit:

„Die Legende von Sigurd und Gudrún“ ist nicht jedem zu empfehlen, sondern wohl nur denen, die sich auch für diesen Sprach- und Erzählstil begeistern können. Denn leichte Kost ist das Buch bei Weitem nicht! Doch für jeden, der sich für die Nibelungensaga interessiert oder der ein Fan von Tolkiens Werken ist, wird „Die Legende von Sigurd und Gudrún“ ein ganz besonderes Leseereignis sein.

Tolkien hat ein wunderbares Werk geschaffen, dass allein schon aufgrund der Sprachmelodie verzaubert. Gleichzeitig hat er den sprachlichen Stil des Mittelalters und die Stabreime so gekonnt umgesetzt, dass man vor diesem Autor einfach den Hut ziehen muss! Was Tolkien hier geschaffen hat, schaffen wahrlich nur sehr wenige Schriftsteller der heutigen Zeit.

Natürlich sei an dieser Stelle auch ein riesiges Kompliment an den Übersetzer Hans-Ulrich Möhring ausgesprochen. War es doch keine leichte Aufgabe, den Text zu übersetzen und dabei sowohl den Ausdruck als auch das Versmaß entsprechend einzuhalten.

Tolkien und Möhring gebühren für dieses Werk wahrlich Respekt und Anerkennung!

Vielen lieben Dank an Klett-Cotta für die Bereitstellung dieses wunderbaren Rezensionsexemplares!