Jeder kennt die Geschichte des kleinen Mädchens Alice, das in ein Kaninchenloch fällt und sich in einer völlig skurrilen Welt – dem Wunderland, der Welt hinter den Spiegeln – wiederfindet, wo es an einer verrückten Tee-Party teilnimmt und auf unzählige abgedrehte, ulkige Figuren trifft.

Doch wie war die wahre Alice aus dem Wunderland? Wer war das Mädchen VOR dem Spiegel, das Mädchen, das Charles Lutwidge Dodgson – so Lewis Carrolls bürgerlicher Name – zu einem Klassiker der Weltliteratur inspirierte?

Melanie Benjamin liefert mit ihrem Roman „Alice und ich“ eine Antwort darauf. Sie erzählt uns das Leben der echten Alice Pleasance Liddell  – außerhalb der bunten Wunderland-Traumwelt.

Denn sie war so viel mehr als nur die Muse eines Schriftstellers, mehr als nur Vorbild für eine Geschichte. Alice Pleasance Liddell war ein echter, eigenständiger Mensch, ein Individuum mit einem eigenen Leben, einer eigenen Geschichte.

Charles Lutwidge Dodgson beeinflusste ihr ganzes Leben. Und das, obwohl er eigentlich nur während ihrer Kindheit Teil ihres Lebens war – den Rest ihres Lebens verbrachte Alice ohne ich, hatte kaum Kontakt zu ihrem ehemaligen „Onkel Dodgson“. Dennoch wird die Dekanstochter immer und überall nur auf ihn und das Wunderland reduziert.

Dem hat Melanie Benjamin ein Ende gesetzt. Sie hat mehr als nur Dodgsons Muse gesehen, sie sah Alice als Mädchen, als Frau. In ihrem Roman entführt sie den Leser nun in das alte England, erzählt von Alices Kindheit in Oxford und wie das berühmte Bettler-Mädchen-Foto von ihr entstand. Und sie führt uns zu dem Tag, der der Freundschaft zwischen Dodgson und Alice abrupt ein Ende bereitete. Die Gründe für diesen Bruch waren bisher immer nur Spekulationen – was an diesem Tag so Schlimmes geschah, konnte nie herausgefunden werden, da sowohl Dodgson als auch Alice und ihre Familie dazu schwiegen. Melanie Benjamin zeigt ein mögliches Geschehen auf. Dieses entspringt zwar ihrer Fantasie, macht den plötzlichen Bruch jedoch greifbarer.

Hier hörten die meisten Bücher und Berichte über Alice Pleasance Liddell immer aus.

Benjamin geht jedoch weiter.

Sie zeigt Alices behütete Kindheit in Oxford – die gemeinsame Zeit mit ihren Schwestern, die Ausflüge mit Dodgson, Alice als aufgewecktes, neugieriges und dennoch verträumtes, leicht schusseliges Mädchen. Ein Mädchen, das sehr viel weiser ist, als man es von Kindern in diesem Alter erwartet. Ein Mädchen, das Sehnsüchte und Gefühle hat, Liebe empfindet – denn genau das tut Alice in Benjamins Roman: Sie hegt Gefühle für den mehr als 20 Jahre älteren Dodgson. Normalerweise ist eine Beziehung dieser Art skandalös und nicht gerade moralisch. Aber  Melanie Benjamin lässt uns all das aus Alices Augen sehen, beschreibt mit so viel Gefühl, dass man Alices Sicht- und Denkweisen mitempfindet, nachvollziehen kann und es als normal betrachtet – genau wie die gerade mal zehnjährige Alice es als normal und nicht verwerflich sieht in ihrer jungen, naiven, kindlichen Art.

Es steckt so viel Liebreiz in dieser kleinen Alice, dass man sie einfach mögen muss.

Doch natürlich blieb auch sie nicht ewig Kind. Auch sie wurde erwachsen.

Als junge Frau führt sie eine Beziehung zu Prinz Leopold, dem Sohn von Königin Victoria. Beide sind so glücklich miteinander und wollen heiraten.

Plötzlich stirbt Alices jüngere Schwester Edith. Kurz darauf beendet Leopold die Beziehung, da seine Mutter nicht in die Ehe einwilligt. So hat Alice gleich zwei Verluste zu ertragen, doppelten Schmerz, ein zweifach gebrochenes Herz.

Mit 28 Jahren heiratet sie schließlich Reginald Hagreaves, hat mit ihm drei Söhne.

Der Leser begleitet Alice bis wenige Jahre vor ihren Tod, erfährt von all ihren Schickssalsschlägen, wie ihr Leben, das so verheißungsvoll begann, so viel Schmerz brachte. So verlor Alice nicht nur in jungen Jahren ihre Lieblingsschwester und ihre große Liebe, sondern musste sich bei Ediths Tod noch von der eigenen Mutter anhören, warum es nicht Alice anstatt Edith getroffen hat. Ja, Alice hatte nicht immer das beste Verhältnis zu ihrer Mutter, galt seit dem Vorfall mit Dodgson an jenem verhängnisvollen Sommertag als Schandfleck der Familie. Und auch später, als Alice raus aus Oxford war, ihre ganze Vergangenheit hinter sich ließ, war ihr nicht mehr Glück zuteil – im ersten Weltkrieg verlor sie ihre beiden ältesten Söhne.

Erst viele Jahre später schaffte sie es, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen und sich als „Alice im Wunderland“ zu akzeptieren – wie sehr hatte sie diese Rolle doch ihr Leben lang gehasst. Denn wohin sie auch ging, was sie auch tat, wen sie auch traf, nie konnte sie dem Wunderland entkommen. Die Geschichte verfolgte sie immer und überall. Und so wurde Alice auf diese Rolle reduziert und dabei hatte sie doch so viel mehr erlebt: „ ‚Wir sind möglicherweise die einzigen beiden Menschen auf der Welt, die mit absoluter Sicherheit wissen, was auf ihrem Grabstein stehen wird: Hier ruht Alice im Wunderland. Natürlich bestand mein Leben aus viel mehr – sehr viel mehr. Aber nur an Alice werden sich die Menschen erinnern. An all das andere nicht.’“ Dies sagte Alice zu Peter Llewelyn-Davies, der James Matthew Barrie zu „Peter Pan“ inspirierte und den damit das gleiche Schicksal wie sie ereilte.

Bis heute hatte Alice damit recht. Doch Melanie Benjamin hat diesem ein Ende bereitet, Alice aus dem Wunderland zurück in die Realität geholt.

Fazit:

Melanie Benjamin ist ein großartiges Porträt über eine Heldin der Literatur gelungen. Sie schafft es, das Wunderland zum roten Faden zu machen, es aber trotzdem in den Hintergrund zu drängen, um Alice in den Mittelpunkt zu stellen.

Das einzige, was ich zu bemängeln habe, ist die teils sehr erwachsene Sprache während Alices Kindheit. Da der Roman aus Alices Sicht und im Präsens geschrieben ist, erwartet man, dass Alice als Kind auch wie ein solches spricht und denkt. Dies war auch meistens der Fall, aber gelegentlich mischten sich Worte und Denkweisen darunter, die einfach nicht zu einem sieben- oder zehnjährigen Kind passen. Worte und Gefühle, bei denen man sich fragt: Kann ein Kind in diesem Alter so etwas wissen, kann es solche Begriffe kennen, solche Gefühle empfinden?

Toll ist jedoch Melanie Benjamins Schreibstil: Mit viel Liebe zum Detail schafft sie in ihrem Roman Alices Welt. Während des Lesens kann man sich nur allzu gut die Kleider, Oxford und die Menschen vorstellen. Alles ist so bildhaft dargestellt, so greifbar, dass das Kopfkino auf Hochtouren läuft. Besonders die Charaktere besitzen so viel Tiefe und sind so real dargestellt – sowohl ihr Äußeres als auch ihre Wesenzüge, ihre Denkweisen und Gefühle. So sieht man Alice als Kind quasi vor sich, wie sie ungeduldig mit den Füßen wackelt oder ihre Schwester Ina mit ihrer altklugen Art und Weise. Man sieht ihre Schwester Edith vor sich und gewinnt sie automatisch lieb dabei: so liebenswert, schön und gutmütig.

Und wenn man das Buch beendet hat und zur Seite legt, ist es fast wie ein kleiner Abschied – Benjamin schafft das, was nicht viele Autoren mit ihren Büchern schaffen: Der Leser gewinnt die Figuren so lieb, ist so in die Handlung involviert, dass das Ende des Buches einem wie ein Lebewohl zu Freunden vorkommt.

Gut gelungen ist ihr auch das millionenfach diskutierte Verhalten Dodgsons gegenüber Alice – wurde er doch in Abhandlungen immer nur als pädophil angesehen, schafft Benjamin es, das Thema zu behandeln, aber gleichzeitig nicht zu urteilen – im Gegenteil, der Leser bekommt einen guten Einblick in die Gefühle von Alice und Dodgson und ihre Beziehung zueinander.  Man erfährt die einzelnen Denkweisen und Ansichten, kann sich selber ein Bild von allem machen. Und dies muss ich Melanie Benjamin wirklich zu Gute heißen. Denn auch wenn Dodgson pädophil war – das Thema nervt einfach, da er immer nur darauf reduziert wird und sich überall alles nur darum dreht. Und wenn man in jedem Lexikon, auf jeder Homepage, in jedem Buch und in jedem Artikel über ihn nur DIESES EINE THEMA liest, hängt es einem irgendwann sehr zum Hals raus. Denn Dodgson war nun mal mehr als das. Genau wie Alice mehr als nur eine Muse oder eine Figur aus einem Kinderbuch war.

Und auch der Leser von Melanie Benjamins Buch sieht am Ende mehr in Alice als nur das Mädchen im Land hinter den Spiegeln. Nach dem Lesen wird man sie in einem völlig anderen Licht sehen und „Alice im Wunderland“ wohl nie wieder mit den gleichen Augen betrachten.

Doch wie meinte Alice Pleasance Hargeaves, geborene Liddell, am Ende des Buches:

„Alice war ich, Alice bin ich. Alice werde ich sein.“