Auf den ersten Blick scheint die Kleinstadt Mill Valley der Inbegriff des California Dream zu sein: Eingebettet in eine malerische Kulisse leben hier die Reichen und Schönen. Die Familien sind wohlhabend, leben in prächtigen Häusern mit großen Grundstücken, die Teens sind gutaussehend, geben sorglos Mamas und Papas Geld aus und können ziemlich sicher auf einen Platz an einem angesehenen College hoffen – wenn die Leistungen nicht ausreichen, richten es Geld oder Vitamin B. Hinter dieser Fassade offenbart sich den Lesern von Lindsey Lee Johnsons Debütroman „Der gefährlichste Ort der Welt“ jedoch ein Alltag voller kleiner und großer Abgründe. Partys, Drogen, Alkohol, Geheimnisse und Täuschungen prägen das Leben an den örtlichen Schulen. Freundschaften werden schnell gewechselt oder bewegen sich auf den Eisschollen der Oberflächlichkeiten, jederzeit bereit, wegzutreiben, sobald die Fassaden zu bröckeln beginnen oder ernste Probleme auftauchen.

Episodenhaft lädt uns Lindsey Lee Johnson in die Leben unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler ein, deren Schicksale – wenngleich die Teens unterschiedlichen Cliquen und Jahrgängen entspringen – alle miteinander verknüpft sind. Zuerst treffen wir auf die dreizehnjährige Cally und ihren Mitschüler Tristan. Während Cally zu diesem Zeitpunkt ein eher durchschnittliches Mädchen mit den üblichen pubertären Sorgen ist, ist Tristan ein Außenseiter: ein Schüler mit Förderbedarf, der aber wissbegierig und intelligent ist, wenn es um Spezialthemen geht, der durch seine Jogginghosen in grellen Farben zum Gespött der Schule gemacht wird und ständig Origami-Kraniche faltet. Schon lange ist Tristan in Cally verliebt. Eines Tages nimmt er seinen Mut zusammen und offenbart Cally in einem Brief seine Gefühle. Cally, irritiert und überfordert von diesen Zeilen, zeigt den Brief anderen und die Situation eskaliert. Tristan wird nicht länger nur ignoriert oder belächelt, sondern auf Facebook beleidigt und gemobbt. Cally betrachtet diese Ereignisse verstört und mit gemischten Gefühlen: Sie weiß, dass all das falsch ist, dass sie daran Schuld trägt und handeln sollte; gleichzeitig sorgt sie sich aber um ihren eigenen Ruf und dreht sich die Dinge so lange zurecht, bis sie die Geschehnisse als Tristans eigene Schuld betrachtet – und sich den Mobbern anschließt. Schließlich sieht Tristan nur noch einen Ausweg …

Jahre später dreht sich das Leben in Mill Valley weiter. Einige Freundschaften sind in die Brüche gegangen, andere wurden neu geknüpft, die meisten Teens haben sich kaum weiterentwickelt – lediglich Cally hat eine radikale Veränderung vollzogen und sich einer Gruppe kiffender Hippies angeschlossen. Doch immer wieder kreuzen sich ihre Wege mit denen ihrer früheren Freunde. Sie alle lernen wir nun kennen und erfahren, was hinter ihren Fassaden steckt. Dabei greift Lindsey Lee Johnson tief in die Kiste der High-School-Stereotype: Da ist die Einser-Schülerin, die eine Affäre mit einem Lehrer anfängt, die Balletttänzerin, die knallhart auf einen Studienplatz an der renommierten Juilliard School hintrainiert, die laute, proletenhafte Jungs-Gang, die sich aufführt, als gehöre ihr die Schule, die High-School-Schönheit, die sich auf ihr Äußeres reduziert fühlt und da ist auch der Durchschnittsschüler, der sich nach einem einfachen Leben sehnt, für dessen Eltern aber nur ein Studium an einer Elite-Uni und eine Karriere in einem gut bezahlten Sektor akzeptabel ist. Sie alle spielen ihre Rollen und fühlen sich eingesperrt, weil sie spüren, dass in ihnen mehr steckt, als das, was ihre Umwelt von ihnen wahrnimmt. Doch aus diesem geistigen Käfig auszubrechen, das trauen sie sich nicht oder sie wissen nicht, wie sie dies anstellen sollen. Und natürlich dürfen auch die ausufernden Partys mit zerstörten Wohnzimmern, die Drogen- und Alkoholexzesse und ein verheerender Autounfall nicht fehlen. Ja, all das kennt man zur Genüge aus diversen Hollywoodfilmen – man kennt es so gut, dass in „Der gefährlichste Ort der Welt“ nichts überraschen kann. Alles hat man so oder so ähnlich schon gesehen oder gelesen. Etwas wirklich Neues hält Lindsey Lee Johnson in ihrem Debüt nicht bereit, weshalb ich nicht in die Begeisterungsstürme des US-Feuilletons einfallen kann.

Aber „Der gefährlichste Ort der Welt“ ist die Lektüre dennoch wert. Wenngleich Lindsey Lee Johnsons auf inhaltlicher Ebene all das bereits Bekannte und Bewährte neu aufwärmt, erzählt sie die Geschichten der Teens auf eine authentische und fesselnde Weise, immer schwankend zwischen Drama und Komik. Das gelingt ihr vor allem durch den Episodencharakter, der den Roman fast wie eine ausgefeilte Kurzgeschichtensammlung erscheinen lässt, sowie durch die Rhetorik, die die Autorin stets an die jeweilige Figur anpasst und die von Kathrin Razum gekonnt ins Deutsche übertragen wurde. Vor allem aber überzeugt „Der gefährlichste Ort der Welt“ dadurch, dass die High-School-Stereotype auf eine sehr intime Art nahegebracht werden – die Charaktere mögen nicht überraschen, aber sie öffnen sich uns mit ganzem Herzen, wenn auch manchmal nur widerwillig. Wir lernen die Charaktere besser kennen, als es ihre Freunde oder ihre Angehörigen tun, verstehen, was sie antreibt und hemmt. Es ist ein Blick in die Licht- und Schattenseiten ihrer Gedanken und so erwischte ich mich mehrfach, wie ich manche Charaktere einerseits für ihr Handeln oder ihr Denken verachtete, andererseits aber Mitleid mit ihnen hatte und ihnen wünschte, sie würden ihre pseudo-coole Fassade einreißen, sich ihrem wahren Selbst stellen und ihr Leben neu gestalten, in der Gewissheit, dass sie andernfalls einen Fehler nach dem anderen begehen und ihr Verhalten später bereuen werden.

Vor diesen Hintergründen kann ich mir „Der gefährlichste Ort der Welt“ sehr gut als Schullektüre vorstellen, um über Gruppenzwang, Identität, Mobbing, Freundschaft, Familie und die Folgen vermeintlicher kleiner, harmloser Entscheidungen zu sprechen. Diskussionsstoff dafür bietet der Roman reichlich und vor allem nimmt er die Jugendlichen, die oftmals sich selbst im Weg stehen, ernst.

Fazit:

Lindsey Lee Johnsons Debütroman „Der gefährlichste Ort der Welt“ kommt zwar leider mit allen altbekannten High-School-Stereotypen daher, erzählt diese Einzelschicksale aber auf eine so direkte, unverfälschte Art und Weise, dass sie ein authentisches Portrait jugendlicher Identitäten und Probleme ergeben.