Vielleicht habt ihr es auch schon einmal erlebt: Man liest die ersten Zeilen eines Buches und spürt sofort, dass man dieses Werk in sein Herz schließen wird!? Mir erging es so mit Damien Luces Debütroman „Monsieur Paulin und ich“. Bereits Cover, Titel und Klappentext konnten mein Belletristikherz zum Schlagen bringen. Doch als ich in der Buchhandlung die erste Seite gelesen hatte, wusste ich: Dieses Buch werde ich lieben! Die Art, wie auf der ersten Seite eine herzerwärmend erscheinende Szene durch eine einzige Handlung der kleinen Protagonistin Jeanne in einen sprachlos machenden Schockmoment kippt, hat mich mehr gefesselt, als es jeder Thriller je vermochte und gab mir das Gefühl, eine ganz besondere Geschichte in den Händen zu halten. Dieser erste Eindruck, der im Leben auch oft täuschen kann, hat sich beim Lesen des gesamten Buches bestätigt. Während der insgesamt 240 Seiten haben sich die kleine Jeanne und ihr Freund Paulin so heimlich in mein Herz geschlichen.

Der Erzähler der Geschichte, der sich selbst als „der legendäre, der unvermeidliche allwissende, allmächtige, unparteiische Erzähler, kurz, der Gott dieses Buches (ein kleiner Gott)“ (S. 25) vorstellt, berichtet uns mal humorvoll, mal völlig unverblümt und dann wieder bewegend aus dem Leben der kleinen Jeanne Chemin. Das Mädchen mit dem „Ohrfeigengesicht“ wird weder von anderen Kindern noch von den Lehrern gemocht und bekommt auch daheim keinerlei Liebe zu spüren. Mutter und Vater geben ihr weder Gute-Nacht-Küsse noch sonstige Beweise elterlicher Zuneigung. In dieser Familie läuft so einiges schief und dass Jeanne unter diesen Umständen kein gewöhnliches und empathisches Kind sein kann, überrascht daher nicht. Exemplarisch für das verquere Einfühlungsvermögen von Mutter und Tochter steht besonders folgendes Gespräch über Jeannes Hobby, das Mikroskopieren:

“ ‚Du solltest dir interessantere Gegenstände für deine Beobachtungen suchen. Zum Beispiel einen Schmetterlingsflügel.‘

‚Dann müsste ich erst einen Schmetterling töten. Das ist nicht so einfach.‘

‚Du brauchst ihn ja nicht zu töten. Es reicht, wenn du ihm einen Flügel ausreißt.‘ “

(Damien Luce: „Monsieur Paulin und ich“, Droemer 2012, Seite 21)

Statt ihrer Tochter Fürsorge und Liebe zu schenken, verbringen die Eltern ihre freie Zeit lieber jeden Samstagabend in der Oper und lassen Jeanne für rund fünf Stunden allein zuhaus. An einem dieser Abende bricht ein junger Obdachloser in die Wohnung der Chemins ein – und stellt sich dabei äußert ungeschickt an. Doch man möge ihm verzeihen: Es war schließlich sein erster Einbruch. Damit das in Zukunft besser klappt, belehrt Jeanne ihren Überraschungsgast zunächst einmal und schenkt ihm ihr Lieblingsbuch über die Abenteuer des Einbrechers Arsène Lupin. Ab sofort gibt das kleine Mädchen dem Obdachlosen, den sie auf den Namen Paulin tauft, jeden Samstag Nachhilfe im Stehlen und Einbrechen. Zwischen beiden entwickelt sich eine tiefe, außergewöhnliche Freundschaft und erstmals in ihrem Leben spürt Jeanne, was es bedeutet, von jemandem gemocht zu werden. Nach einem großen Streit ihrer Eltern nimmt das kleine Mädchen ihr Leben schließlich selbst in die Hand und die Geschichte nimmt einen Verlauf, den kein Leser jemals vermuten würde. So überrascht und überzeugt Autor Damien Luce in seinem Romandebüt gleich auf vielfältige Weise: mit ungeahnten, teils extremen Wendungen, zwei ziemlich ungewöhnlichen, aber ausgesprochen liebenswerten Helden sowie mit großer schriftstellerischer Raffinesse. Trotz der eigentlichen Tragik, die Jeannes Geschichte innewohnt, steckt die Erzählung voller Humor. Leichtigkeit und Wärme. Luces feiner und zugleich schonungslos direkter Schreibstil verleiht dem Ganzen zusätzlich etwas Poetisches.

Ohne jemals den Zeigefinger zu erheben, steckt „Monsieur Paulin und ich“ voller Anspielungen auf gesellschaftliche Tabus, Fehler und Alltäglichkeiten. Luce, der eigentlich Komponist, Dirigent und Konzertpianist ist, macht dabei auch vor seiner eigenen Zunft nicht Halt: Ob Klavierunterricht, klassische Musik oder Oper – alles wird mit einem großen Augenzwinkern aufs Korn genommen.

„Fünf Stunden, in denen eine elefantöse Sopranistin endlos und aus vollem Hals ihre Liebe hinausschreit. Wenn es im Leben wäre wie in der Oper, wären wir alle längst taub und dick.“

(Damien Luce: „Monsieur Paulin und ich“, Droemer 2012, Seite 19)

Damien Luces erster Roman ist ein regelrechtes kleines Kunstwerk geworden. Die deutsche Ausgabe des Droemer Verlags hat diesen textlichen Zauber dabei auch wunderbar in die Optik umgesetzt: Das Cover versprüht den französischen Charme der in Paris angesetzten Handlung und macht das Buch zum klassischen Einreihen ins Bücherregal eigentlich zu schade. Erst recht, wenn man die Innenseiten des Covers berücksichtigt, die mit einer Panoramaaufnahme versehen sind. Auch die abgerundeten Ecken, die diverse aktuelle Bücher des Verlags zieren, sind eine gelungene Neuerung und bilden ein kleines, aber feines Alleinstellungsmerkmal.

Fazit:

Ein Buch, dessen Äußeres und Inneres man gleichermaßen lieben muss. Damien Luce ist mit „Monsieur Paulin und ich“ ein außergewöhnlich gutes Debüt gelungen, das von der ersten Seite an durch einzigartige Charaktere, einen ungeahnten Handlungsverlauf, eine große Prise Humor und nicht zuletzt durch einen sehr feinen Schreibstil besticht. Der Roman erzählt dabei die Geschichte einer sehr ungewöhnlichen Freundschaft und gehört zu jener Art Erzählungen, von denen es deutlich mehr geben könnte. So bleibt zu hoffen, dass wir noch weitere derart liebenswerte Geschichten aus Luces Feder zu lesen bekommen.