„Oft wünsche ich mir, ich wäre kein afrikanisches Mädchen, sondern eine britische Pfundmünze. Dann würde sich jeder freuen, mich zu  sehen.“ Die 16-jährige Little Bee hat kein Zuhause mehr und scheint auch sonst nirgendwo hinzugehören, ist völlig auf sich allein gestellt und kämpft so täglich ums Überleben. Sie will leben, auch wenn es scheinbar nichts mehr gibt, wofür es sich zu leben lohnt. Ihre Familie ist tot, Little Bee musste miterleben, wie ihre eigene Schwester zuerst mehrfach vergewaltigt und anschließend ermordet wurde und seit Little Bees Flucht aus Nigeria musste sie die letzten zwei Jahre in einem Abschiebegefängnis in England verbringen – ohne Freunde, ohne Kontakt zur Außenwelt und immer darum bemüht, sich aus Angst vor „den Männern“ unattraktiv zu machen und nicht aufzufallen. Egal, wo Little Bee ist, zuerst sucht sie immer nach einer Möglichkeit, wie sie sich schnell das Leben nehmen könnte, falls „die Männer“ aus Nigeria wiederkommen und sie umbringen wollen.

Doch trotz allem hat Little Bee ihren Lebensmut nie ganz verloren, hat nicht gänzlich verlernt zu lachen und in der Hoffnung, irgendwann wieder ein normales Leben führen zu können – fortan in England -, hat sie Englisch gelernt, nicht das reine Vokabular, sondern den Ausdruck, sprachliche Mittel, das Englisch der Königin, wie sie es nennt, denn wenn die Königin spricht, haben alle Respekt, keiner würde es wagen, der Queen zu widersprechen oder sie schlecht zu behandeln.

Nun ist der Moment für Little Bee gekommen: Sie soll aus dem Abschiebegefängnis entlassen werden, kann fortan in London leben. Aber wo? Wie soll sie hier, wo sie niemanden hat, ein Leben führen? Doch Little Bee hat eine Lösung: Vor zwei Jahren traf sie am Strand in Nigeria das englische Paar Andrew und Sarah, die im dort verbrachten Urlaub ihre Beziehung retten wollten. Doch ihr Urlaub wurde zum Albtraum, als sie am Strand auf Little Bee und ihre Schwester trafen: Sie rieten mitten hinein in die Gefahr, die die beiden nigerianischen Mädchen schon lange umgab. Es kommt zu einem dramatischen Zwischenfall, der das Leben aller dort Anwesenden für immer grundlegend verändern sollte. Nun nach zwei Jahren erinnert Little Bee sich an Andrew und Sarah. Sie ruft Andrew an, erzählt ihm von ihrer Freilassung und dass sie zu ihnen kommen möchte.

Wenige Tage später nimmt Andrew sich das Leben – seine seit dem Nigeriazwischenfall immer stärker gewordene Depression hat nach Little Bees Anruf ihren Höhepunkt erreicht, jeglicher Lebenswille war entwichen. Sarah muss nun mit allem allein fertig werden – der Beerdigung, Little Bee und ihrem Sohn Charlie, der sich für Batman hält und unsichtbare Feinde bekämpft. Gemeinsam versuchen die beiden Frauen nun ihr Leben einigermaßen wieder in geordnete Bahnen zu lenken und die Kraft zum Leben zu finden  – jede von ihnen ist auf die Andere angewiesen, scheint es doch, als hätten sie nur noch einander.

Chris Cleaves „Little Bee“ ist ein Buch, dass sich nicht so leicht in Worte fassen lässt. Zum einen ist da dieser wunderbare metaphorische Schreibstil, wie beispielsweise das Pfundmünzen-Symbol, welches sich durchs ganze Buch zieht. Cleave nutzt keine sprachlichen Bilder, die nur einen Satz lang auftauchen – stets ziehen sie sich über einen längeren Zeitraum, entwickeln sich weiter und vermitteln vieles, was sich sonst nicht in Worte fassen ließe. Besonders im ersten Drittel des Buchs ist dieser Erzählstil vorherrschend und zeigt uns so eine sehr nachdenkliche, kluge Little Bee.

So konstant wie mit den sprachlichen Bildern ist der Autor auch mit anderen Elementen, so zum Beispiel bei Charlies Batman-Fantasien. Immer wieder wird dies aufgegriffen und Ereignisse, die aus Charlies Verhalten resultieren, verflechten sich mit der restlichen Geschichte. So ergeben sich manchmal absurde Momente, die aber nie fehl am Platz wirken, nie stören, sondern dem Ganzen noch mehr Menschlichkeit und Authentizität verleihen – und auch für Schmunzeln sorgen. Cleave schafft das schwere Kunststück, in eine zutiefst dramatische, traurige und brutale Geschichte, Humor und Leichtigkeit zu bringen, ohne dass es unglaubwürdig wird. Die Geschichte um Little Bee gibt dem Leser dadurch so viel und ermöglicht auf verschiedenen Wegen einen Zugang zum Geschehen.

Erzählt wird die Geschichte immer abwechselnd aus Little Bees und Sarahs Sicht, wobei Chris Cleave jeder der Frauen auch eine eigene sprachliche Ausdrucksweise gegeben hat. Man bekommt so ein gutes Gefühl für ihre Wesensarten und Gefühle. Doch das gilt genauso für die anderen Charaktere: Charlie, der so unschuldig ist und in seiner eigenen Welt leben, den man einfach lieben muss; Andrew, der tot ist, aber durch Rückblenden genauso greifbar ist wie Little Bee und Sarah; aber auch die Nebencharaktere wie zum Beispiel die drei anderen Flüchtlingsmädchen, die mit Little Bee das Abschiebegefängnis verließen, so individuell sind und von Cleave mit so viel Liebe zum Detail erschaffen wurden.

In der Erzählweise variiert die Geschichte von tempo- und ereignisreichen Momenten bis hin zu ruhigen Szenen. Besonders kurz vor Ende, als es scheint, dass das Leben für die beiden Frauen wieder normal verlaufen könnte, schlägt die Handlung noch einmal um und endet ziemlich offen in Afrika. So wird der Leser zurückgelassen in der Ungewissheit um das Schicksal Little Bees und Sarahs, aber mit viel Stoff zum Nachdenken …

Fazit:

„Little Bee“ bewegt. Chris Cleave konfrontiert seine Leser mit gewaltigen Problem und Gefahren dieser Welt, vor denen man im normalen Alltag doch zu oft die Augen verschließt (oder verschließen will), regt so zum Nachdenken an. Gleichzeitig bring der Autor seine Leser mit „Little Bee“ zum Lachen, zum Weinen, zum Fürchten, zur Atemlosigkeit. Sein Schreibstil ist dabei mal gnadenlos direkt, oft aber auch sehr bildlich und sogar philosophisch. Die Intensität und Vielfalt von „Little Bee“ lässt sich nur schwer zusammenfassen: Es ist ein Buch, das man selber gelesen haben muss – und es ist ein Buch, das eine Fortsetzung verlangt.