„Ein liebes, zurückhaltendes Mädchen“, „du musst dich jedoch öfter melden“, „ein ausgeglichenes, sehr ruhiges Mädchen“, „ein unauffälliges Kind“, „deine mündliche Mitarbeit gefällt mir noch nicht“, „sollte eine regere Beteiligung am Unterrichtsgeschehen zeigen“ – diese und ähnliche Aussagen finden sich in all meinen Grundschulzeugnissen. Von Introversion und Extroversion hatte in den ’90ern abseits der Psychologie und Wissenschaft noch niemand gehört. Als ich in den letzten zehn Jahren leitende Positionen innehatte, wurde mir mehrfach gesagt, dass ich mehr reden, mich mehr in Gesprächen einbringen müsse, um wahr- und ernstgenommen zu werden. Auch im sozialen Umfeld bekomme ich immer wieder mit, dass Introversion als Vorsicht, Schüchternheit, Angst oder Unsicherheit interpretiert wird und zu ändern ist, wenn beispielsweise Eltern geraten wird, mit der Einschulung des Kindes noch ein Jahr zu warten, da das Kind zu schüchtern für die Schule sei.
Da extrovertierte Menschen die Mehrheit bilden, lauter, präsenter sind, ist unsere Lebenswelt auf die Bedürfnisse und Gewohnheiten Extrovertierter ausgerichtet. Introvertierte Menschen werden nach wie vor missverstanden und zu Extroversion gedrängt. Ihnen wird vermittelt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Also versuchen sie sich anzupassen, verstellen sich. Auch ich kann in bestimmten Situationen für einen begrenzten Zeitraum agieren wie Extrovertierte, spreche über Themen, die mich nicht interessieren, zwinge mich dazu, Gespräche am Laufen zu halten und hüpfe von einem sozialen Event zum nächsten. Doch fühle ich mich dabei nicht wie ich selbst, bin hinterher ausgebrannt, möchte mich für mehrere Tage einigeln und vom Rest der Welt isolieren – wofür ich mich wiederum rechtfertigen muss (oder glaube, mich rechtfertigen zu müssen).
In Carina Thomas‘ „Sag doch mal was!!! Die leise Superpower der Introvertierten“ habe ich mich daher an vielen Stellen viel zu gut wiedererkannt. Carina Thomas ist selbst introvertiert und wurde oft in die unangenehme, überfordernde Situation gebracht, reden zu müssen, nur um die Erwartungen anderer zu erfüllen. In ihrem Buch teilt sie diese und andere Erfahrungen, erläutert die wissenschaftlichen Hintergründe, stellt berühmte Introvertierte vor und zeigt auf, warum Introversion nicht nur völlig okay ist, sondern auch viele Stärken mit sich bringt. Das tut sie mit sehr auf den Punkt gebrachten Worten, beispielhaften Szenarien, anschaulichen Vergleichen und großflächigen, ruhigen, pastelligen Illustrationen, die mich sofort mental entspannten.
Das Buch richtet sich offiziell an Lesende ab zehn Jahren. Schwierige Begriffe werden daher kurz erläutert. Aber auch die Rolle von Amygdala, Dopamin, Sympathikus und Parasympathikus vermittelt Carina Thomas altersgerecht und leicht verständlich. So habe selbst ich noch dazugelernt und zum ersten Mal verstanden, was in meinem Körper konkret passiert. Nicht zuletzt deshalb eignet sich „Sag doch mal was!!!“ auch für Erwachsene.
Bei all dem zeigt die Autorin introvertierten Lesenden: „Ihr seid nicht allein und ihr seid großartig, wie ihr seid.“ Ihr Buch schenkt Trost, Selbstvertrauen und macht gleichzeitig Spaß – und ich wünschte, es hätte „Sag doch mal was!!!“ schon in meiner Schulzeit gegeben.
Fazit:
Mit Introversion beschäftigen sich Literatur, Serien, Filme und andere Medien nach wie vor zu selten. Bücher wie „Sag doch mal was!!!“ sind daher umso wichtiger, um für Introversion zu sensibilisieren, aufzuzeigen, dass ruhige, zurückhaltende Menschen nicht „unnormal“ sind, bessere Rahmenbedingungen für Introvertierte zu fördern, ihre Stärken anzuerkennen und wertzuschätzen. Insbesondere Lehrkräften, Erziehenden und weiteren pädagogisch Tätigen lege ich Carina Thomas‘ Buch sehr ans Herz.
Carina Thomas: „Sag doch mal was!!! Die leiste Superpower der Introvertierten“, CalmeMara Verlag 2024, ISBN: 978-3-948877-61-3
„Stubenhocker“ und „Unnormales“ waren nur zwei der Wörter, die meine Mutter für mich hatte. Darf gar nicht daran denken, wie sehr ich mich gequält habe in meinem Bemühen, „normal“ zu sein. Im Grunde war das eine 40-jährige Schauspielkarriere, dieses „So tun als ob“. Heute feiere ich meine Introversion. Buch kommt auf die Liste.
Wenn solche Kommentare aus der eigenen Familie kommen, verletzt das noch mehr. Es macht mich immer wieder fassungslos, wie unsensibel und gemein manche Eltern (oder Großeltern oder Geschwister) sind.
Schauspielern ist genau die richtige Beschreibung für das, was Introvertierte tagein, tagaus tun. Ich bin sehr dankbar, dass das Thema mittlerweile mehr in den Fokus rückt, auch wenn es noch immer viel Aufklärungsarbeit bedarf.
Dass du jetzt deine Introversion feierst, ist genau der richtige Ansatz! Ich wünsche dir, mir und allen anderen Introvertierten, dass wir uns irgendwann nicht mehr ständig verbiegen oder rechtfertigen müssen – oder schlimmeres. Wir erwarten von Extrovertierten ja auch nicht, dass sie weniger reden, mehr Zeit mit sich allein verbringen o.ä.
Oh ja, diese Zeugnissätze von Lehrer:innen kenne ich leider auch. Ich muss gestehen, dass sich für mich auch vieles zum Besseren gewendet hat als ich tatsächlich anfing etwas mehr aus mir rauszugehen. Aber das ist längst keine Erfolgsformel und Kinder dazu anzuregen, sich zu verbiegen, um ein Muster zu erfüllen, wirkt schlichtweg falsch. Ich kann mich erinnern, dass es dafür bei uns sogar Pseudo-Noten gab wie viel man sich am Unterricht beteiligt – was für eine Frechheit. Wo bleibt da der Respekt vor dem Individuum? Und wie leicht schnappen Mobber:innen den Sch%&§ auf?
Klingt nach einem tollen Buch, das ich mir mal merke.
Das mit den leeren, sozialen Batterien fühle ich … und gebe wenig nach. Selbst wenn ein Kollege durch den Raum schallt „Warum kommst du nicht mit? Was machst du stattdessen? Auf der Couch rumsitzen?“
Ja, Noten auf mündliche Mitarbeit gab es bei uns manchmal auch – und auch heute gibt es die noch. Sowas ist eine gute Möglichkeit für Lernende, denen das Schriftliche nicht gut liegt, aber wenn ruhigere Lernende dann abgestraft werden, ist das einfach falsch. (Aber dass Benotung generell nicht fair ist und das Bildungssystem mehr auf die unterschiedlichen Lern- und Prüfungstypen und individuellen Eigenschaften eingehen muss, ist eine eigene, große Baustelle.)
Im beruflichen Kontext bin ich – zumindest unter Kolleg*innen, bei denen ich mich wohlfühle – auch redseliger, präsenter und offener. Aber zum einen ist das berufliche Ich für mich noch mal ein anderes als das private Ich, zum anderen kann ich im Privaten nicht auch noch extrovertiert agieren, wenn ich das schon 40h die Woche tun muss.
„Selbst wenn ein Kollege durch den Raum schallt „Warum kommst du nicht mit? Was machst du stattdessen? Auf der Couch rumsitzen?““ – Solche Kommentare von anderen klingen immer gleich so abwertend. Als gäbe es höherwertige und niedrigwertige Arten, seine Freizeit zu verbringen. :-/