Stell dir vor, du hast ein glückliches, wohlbehütetes Leben geführt – und dann ganz plötzlich, wird dein Leben von einer Sekunde auf die nächste komplett in Frage gestellt. Alles, was bisher für dich Familie hieß, alles, was dein Leben ausmachte, erscheint plötzlich in einem ganz anderen Licht, einem Licht, das du aber nicht richtig deuten kannst.

So geht es Delia Hopkins: Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit, einen Vater, der sie auf Händen trug bzw. trägt, zwei beste Freunde, von denen einer sogar ihre Jugendliebe und nun ihr Verlobter wurde. Nun steht Delia kurz vor ihrer Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Eric und hat eine kleine Tochter namens Sophie. Ihr Leben scheint normal zu sein – bis sie erfährt, dass sie nicht die ist, von der sie ihr Leben lang glaubte, sie zu sein. Delia heißt eigentlich Bethany und wurde als Vierjährige von ihrem Vater Andrew, der damals noch Charles hieß, entführt. Nun, 28 Jahre später, wird Andrew dafür  vor Gericht gezogen. Delia bittet Eric, ihren Vater vor Gericht zu verteidigen. Denn auch wenn er sie entführt hat, auch wenn sie nicht weiß, wer sie und ihr Vater sind, so liebt sie ihn dennoch und weiß instinktiv, dass er sie nie einfach so, ohne einen wirklich wichtigen Grund entführt hätte. Während Andrew im Gefängnis ums Überleben kämpfen muss, begibt sich Delia auf die Suche nach ihrer wahren Identität – und lernt endlich ihre Mutter kennen, von der sie ihr Leben lang glaubte, sie sei tot. Doch das Wiedersehen, das Delia sich heimlich in ihren Träumen immer ausgemalt hatte, ist mehr als nur ernüchternd. Mit jedem Tag der vergeht, hinterfragt Delia sich, ihre Familie und ihre Vergangenheit mehr, immer auf der Suche nach einer Identität, nach dem, wer sie ist, was sie ausmacht und vor allem, was das alles für ihr weiteres Leben bedeutet.

Was beim Lesen von „Die Wahrheit meines Vaters“ zuerst auffällt, sind die für Picoult typischen facettenreichen Charaktere. Es gibt keinen, der nicht irgendeinen inneren Konflikt mit sich herum trägt, keinen der in jeglicher Hinsicht glücklich oder unfehlbar ist – außer der kleinen Sophie. Es gibt keinen, der nur gute oder nur schlechte Wesenzüge besitzt. Und so ist es möglich, dass der Leser die Beweggründe der Personen immer gut nachvollziehen kann und, selbst ohne den Grund für die Entführung zu kennen, Andrew gegenüber keinen Zorn empfindet. Man möchte wissen, was diesen Vater, der so sozial und herzensgut scheint, vor 28 Jahren dazu bewog, der Mutter das Kind zu entreißen.

Neben Delias Suche nach ihrem wahren Ich spielt Andrews Aufenthalt in der Haftanstalt eine große Rolle. Diese Handlung wirkt dabei noch viel intensiver und bewegender als die eigentliche Geschichte um Delias Herkunft. Picoult zeichnet den Gefängnisalltag so detailliert, so schonungslos, mit all seinen schrecklichen Seiten auf, dass man Andrew so schnell wie möglich aus dieser Hölle herausholen will. Im Gefängnis herrschen Hierarchien, Bandenkämpfe, Rassismus, Mord und Totschlag, Missbrauch und Verrat. Jeder kann nur sich selbst trauen und ist doch gleichzeitig darauf angewiesen, sich mit anderen zu verbünden, um zu überleben. Was Andrew dort sieht und erlebt, wünscht man niemandem. Picoult zeigt alle Grausamkeiten genau auf, es gibt keine Verweichlichung, keine Untertreibung, sie zeigt unbeschönigt die Härte und Brutalität der Insassen auf. Für zarte Gemüter sind diese Textstellen nichts. Doch sie rütteln wach und regen zum Nachdenken an. Für mich waren die Gefängnisszenen die eindringlichsten im ganzen Buch.

Sehr gelungen sind die Stellen, die von Andrew erzählt werden. Hier wird ein so vielseitiger Mensch aufgezeigt, ein Mensch, der so voller Liebe und Wärme ist, aber gleichzeitig voller Stärke und Bedingungslosigkeit, wenn es um sein Leben und das seiner Tochter geht. Ironischerweise ist er der Charakter, der am sympathischsten und aufrichtigsten herüberkommt – obwohl er doch ein Entführer, ein scheinbar Schuldiger ist. Doch trotz seiner Tat kann man Andrew nur mögen und ihm einen guten Ausgang der Geschichte wünschen.

In „Die Wahrheit meines Vaters“ verbindet Picoult Facetten von Familie und Gesetz so gekonnt, dass die Geschichte nie eingleisig läuft. Der Roman ist so nicht nur für Fans eines bestimmten Genres geeignet, sondern richtet sich an eine Vielzahl von Lesern mit unterschiedlichen Interessen und Lesevorlieben. Dabei wirkt es auch immer wieder Fragen und Thematiken auf, die Zwiespälte im Leser hervorrufen und teilweise auch schockieren, was besonders für die Gerichtsszene am Ende des Buches gilt, die die Ängste eines jeden (zukünftigen) Elternteils darlegt.

Fazit:

„Die Wahrheit meines Vaters“ ist wieder einmal ein durch und durch gelungener Roman aus der Feder Jodi Picoults – mit den für sie typischen vielseitigen, konflikt- und problembehafteten Charakteren und einer Geschichte, bei der zumeist nichts so ist, wie es anfangs erscheint.