Zugegeben, Anne Franks Geschichte als Comic zu veröffentlichen, scheint auf den ersten Blick vielleicht etwas merkwürdig – zu ernst ist das Thema und es besteht die Gefahr, dass die Bedeutung dieses historischen Stoffs durch einen Comic abgeschwächt oder verloren geht. Doch die Graphic Novel von Sid Jacobson und Ernie Colón hat den schwierigen Balanceakt zwischen Anschaulichkeit und Information geschafft. Sie zeigt die schönen Momente in Annes Leben, die einem zum Schmunzeln bringen können, aber liefert auch historische Fakten und macht vieles greifbar.

„Das Leben von Anne Frank“ ist keine bildliche Umsetzung des Tagebuches. Im Gegenteil: Annes Tagebucheinträge und die Zeit im Hinterhaus machen nur etwas mehr als ein Drittel des Buches aus – es wird ein guter, grober Überblick gegeben, jedoch kommen die Enge, die schweren Lebensbedingungen der acht Untergetauchten und vor allem Annes Gefühlswelt nicht so intensiv zum Ausdruck wie in Annes Tagebuch. Die Graphic Novel bietet dafür einen ausführlichen und sehr greifbaren Überblick über Annes gesamtes Leben, beginnend bei der Jugend ihrer Eltern, deren Kennenlernen und Heirat über Margots und Annes (verhältnismäßig) glückliche Kindheit bis hin zur Zeit nach der Entdeckung der Untergetauchten. Sie erzählt die Geschichte dort weiter, wo Annes Tagebuch damals enden musste: der Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, der Trennung der einzelnen Untergetauchten, den körperlichen und seelischen Qualen in den Lagern und schließlich Otto Franks Rückkehr nach der Befreiung und dem Ende des Krieges, bis hin zur Gründung der Anne Frank Stiftung und Otto Franks Tod.

Anfangs war es für mich sehr ungewohnt, zu lesen und „anzusehen“, was zum einen daran lag, dass es meine erste Graphic Novel war und zum anderen daran, dass die gezeichnete, bunte Geschichte eben kein Comic ist, sondern wahrhaftig geschehen ist. So habe ich mir anfangs viele dargestellte Szenen in meinem Kopf als „Realbild“ vorgestellt und auch sehr lange für die ersten Seiten gebraucht. Immer wieder versuchte ich, das Gezeichnete vor meinem geistigen Auge mit den echten Franks zu sehen, mir Annes Lachen vorzustellen – Dinge, die beim Lesen „gewöhnlicher“ Bücher automatisch passieren. Doch nach einer Weile habe ich mich daran gewöhnt und sozusagen ein Auge für das „bildliche“ Lesen entwickelt. Dankbar war ich für die bildliche Darstellung sogar später, als es um historische Fakten ging. Und besonders am Ende, als die Zeit in den KZs aufgezeigt wird, erwecken die Zeichnungen diesen Teil der Geschichte mehr zum Leben als ein reiner Text, man sieht das Elend und all das Leiden ja nun – es ist so greifbar als würde man Fotos aus der damaligen Zeit betrachten, nur dass etwas mehr Distanz bleibt, was jedoch nicht negativ gemeint ist, da die Bilder die eigene Fantasie noch mehr anregen.

Die einzelnen Charaktere, besonders die der Franks kommen sehr gut rüber. Schön ist, dass auch andere Familienmitglieder wie die Großmütter und Onkel ein „Gesicht bekommen haben“, der Leser auch über sie einiges erfährt.

Grafisch betrachtet, ist das Buch großartig, selbst kleinste Details sind so gekonnt und realitätsgetreu dargestellt. Sehr gelungen ist Jacobson und Colón dabei die Darstellung der Franks – ihre Gesichtszüge entwickeln sich im Laufe der Jahre, wie es nun einmal im Leben auch ist, und verharren nicht starr in der Entwicklung. So lassen sich auch die entsprechenden Alter deutlich erkennen. Und selbst als kleine Kinder besitzen Margot und Anne die für sie typischen Züge, sind nicht einfach nur als 08/15-Kinder dargestellt. Am besten sind den Zeichnern dabei die Gesichter der beiden Schwestern und Ottos gelungen, auf denen sich oft so viel abspielt, aus denen mal sehr viel herauslesen kann und die dadurch sehr lebendig erscheinen.

Nicht vergessen zu erwähnen sollte man das Cover des Buches, das eine Anlehnung an Annes mit Filmstarbildern dekorierte Wand in ihrem Zimmer im Hinterhaus ist. Selbst Farbe und Struktur der Tapete sind exakt auf dem Cover wiedergegeben. Nur dass, im Gegensatz zur echten Wand, hier ein Bild von Anne zu sehen ist.

Fazit:

„Das Leben von Anne Frank. Eine grafische Biografie“ kann man uneingeschränkt Kennern und Nichtkennern der Anne Frank Geschichte empfehlen. Die Graphic Novel bietet eine gelungene Mischung aus historischen Fakten, Alltag der Franks und dem gesamten Leben Annes bis über ihren Tod hinaus. Es bringt dem Leser das Mädchen Anne zwar nicht so nah, wie das Tagebuch der Anne Frank, doch setzt es ihre Geschichte in einen Gesamtkontext und zeigt das Mädchen, das Anne vor der Zeit im Hinterhaus war sowie das soziale Umfeld der Franks. Ich denke, dass sich das Buch sehr gut als Schullektüre eignen würde, um Jugendlichen einen besseren Zugang zu der Thematik zu eröffnen und ihnen die Geschichte noch anschaulicher und greifbarer zu machen.