Doch atemberaubende Bilder allein machen noch keinen guten Comic aus. Denn dazu zählt auch eine gelungene Story – und die kann in „India Dreams“ leider nicht überzeugen.
Im Fokus von „India Dreams“ stehen die drei Frauen der Familie Harryson: Mutter Amelia, die in den 1920ern ihrem Mann Thomas nach Indien folgt; ihre Tochter Emily (genannt Emy), die nach dem Tod des Vaters in England groß wird und als junge Frau von ihrem Leben in Indien eingeholt wird; und schließlich Emys Tochter Kamala, die in den 1960ern der Vergangenheit ihrer Familie auf den Grund kommen möchte. Allen drei Frauen scheint das dauerhafte Glück nicht vergönnt zu sein; zudem wird jede von ihnen unfreiwillig in politische Entwicklungen verwickelt. Dabei hat es das Ehepaar Charles jedoch etwas zu gut gemeint: Unzählige Dinge werden angesprochen, aber weder näher erläutert noch in nachvollziehbare Kontexte gesetzt. Die ganze Handlung wirkt, als hätten Maryse und J. F. Charles sämtliche internationalen politischen Entwicklungen der 1920er bis 1970er in einen Mixer gesteckt, auf höchster Stufe durchgewirbelt und das was dabei rauskam, zu Papier gebracht: Da gibt es Pläne, den Kommunismus auszubreiten, ein paar Fetzen Weltkrieg, die Veränderungen, die das 20. Jahrhundert für die Maharadschas mit sich bracht, die Hippie-Bewegung, ein winziger Einblick in das Leben und die Kultur der Sherpas, die Flucht der Buddhisten von China nach Daramsala und etliches mehr. Also eine Menge Stoff, der für die rund 200 Seiten umfassende Graphic Novel miteinander verwoben. Zu viel Stoff, dem die Geschichte in „India Dreams“ nicht gerecht werden kann. Bessere Alternativen wären gewesen, die Themen einzuschränken und dadurch intensiver zu behandeln oder sich mehr Raum für eine angemessene Behandlung der Stoffe zu nehmen. Die Herangehensweise des Paares Charles indes wirkt nur unglaublich chaotisch und überladen. Insbesondere da oftmals nicht erkennbar ist, warum bestimmte Aspekte angesprochen werden und in welchem Zusammenhang sie mit den Harryson-Frauen stehen. Selbst die eigentliche Familiengeschichte der drei Frauen kommt ziemlich wirr daher und lässt den Leser allzu oft mit Fragezeichen zurück. Ständig werden Dinge kurz angedeutet und dann über Dutzende von Seiten nicht wieder angesprochen. Vermutlich sollte dies dazu dienen, Spannung aufzubauen, die Leser neugierig auf die Auflösungen zu machen – bei mir war das indes nicht der Fall. Im Gegenteil: Bereits nach kurzer Zeit war ich genervt von diesen ständigen inhaltlichen Brüchen und verlor zunehmend das Interesse daran, was es mit all den Ereignissen auf sich hat. Wem es gelänge, die Neugier nicht zu verlieren, der müsste viel Geduld aufbringen: Der Großteil der Zusammenhänge wird erst am Ende der Graphic Novel dargelegt, sodass sich dem Leser während des ganzen Buches über allzu vieles nicht einmal ansatzweise erschließt. Zudem erwies sich das Ende zumindest für mich als herbe Enttäuschung. Denn nicht alles wird tatsächlich aufgelöst und die Zusammenhänge, die dargelegt werden, sind nicht immer nachvollziehbar und wirken stark konstruiert und an den Haaren herbei gezogen.
Als wäre das nicht schon frustrierend genug, kommt „India Dreams“ mit etlichen überflüssigen Sexszenen und etlichen Klischees daher. Da ist beispielsweise Engländerin Amelia, die verheiratet ist und ein Kind hat, und sich – kaum in Indien angekommen – auf eine Liaison mit einem Maharadscha einlässt; da ist Emy, die nach vielen Jahren von ihrem Leben in Indien eingeholt wird und sich in ihren Kindheitsfreund verliebt; und dann ist da natürlich die wissbegierige Kamala, die in der ganzen Handlung keine andere Aufgabe hat, als die Geheimnisse der Familie aufzuklären (die im Übrigen wahrlich nicht allzu spektakulär sind). Dabei sind nicht nur die drei Frauen, sondern alle Charaktere der Graphic Novel ziemlich flach. Sie sind lediglich Marionetten der Story: Sie reden und handeln nur, aber weisen quasi keinerlei Identität auf – sie haben keine Wesenszüge, ihre Ideale, Prinzipien, Ziele und Motivationen bleiben geheim. Als Leser war es mir daher unmöglich eine Beziehung zu den Figuren aufzubauen, wie sie denken, erfuhr ich kaum und auch ihre Entscheidungen blieben mir des Öfteren nicht nachvollziehbar.
Zusätzlich zu all dem tischen uns Maryse und J. F. Charles noch etwas Spiritualität auf. Als Kind sehen Emy und der Familienfreund Kenneth Lowther eine Inkarnation des Hindu-Gottes Ganesha (jene Frau, die das Cover von „India Dreams“ ziert und von der sich im Inneren ein Pin-Up-ähnliches Mini-Poster befindet). Welche Rolle diese für die Story hat, fragte ich mich nach Ende der Graphic Novel noch immer. Denn alles, was sie tut, ist Emy und Kenneth zu offenbaren, dass sie und drei weitere Figuren für immer miteinander verbunden sind. Eine ziemlich dürftige Prophezeiung und für den weiteren Handlungsverlauf auch nicht sonderlich relevant. Ähnlich verhält es sich mit Anspielungen auf Tolkiens „Der Herr der Ringe“. An mehreren Stellen fallen Hinweise auf dieses Buch und das Paar Charles suggeriert somit einen Zusammenhang zwischen jenem Buch und der Handlung in „India Dreams“. Ein solcher Zusammenhang existiert tatsächlich jedoch nicht.
Insgesamt erscheint „India Dreams“ unfertig und hätte durchaus noch etlichen Feinschliffs bedarft. Schade, dass das Potenzial der Geschichte nicht genutzt wurde – denn dann hätte „India Dreams“ zu einem meiner Favoriten im Comic-Regal werden können …
Fazit:
„India Dreams“ ist optisch grandios. Maryse und J. F. Charles wollten mit ihrer Graphic Novel jedoch zu viel: Sie lotsten ihre Leser zusammen mit scherenschnittartigen Figuren in ein viel zu großes Chaos, aus dem sie sie leider nicht gänzlich befreien können, sodass der Trip nach Indien zu einer enttäuschenden Reise vor lediglich atemberaubender Kulisse wird.
Geplauder