Ohne Miss Booleanas Rezension hätte ich – in Erwartung einer allzu kitschigen Geschichte – niemals zu „Lempi, das heißt Liebe“ gegriffen. Was schade gewesen wäre, denn Minna Rytisalos Buch verfolgt einen spannenden Ansatz: Die titelgebende Figur, um die sich der ganze Roman dreht, ist durchgehend abwesend. Wir lernen Lempi nie selbst kennen, sondern basteln uns ein Bild zusammen auf Basis dessen, was wir über sie erzählt bekommen. So entsteht ein Porträt einer Frau, das wir mehrfach anpassen und in Frage stellen müssen – und das nie vollständig, ja, vermutlich nicht mal ganz wahr ist.
Und über wen sagen die Berichte über Lempi am Ende mehr aus: über Lempi oder über die Menschen, die im Minna Rytisalos Roman zu Wort kommen?
Da sind zunächst die Erinnerungen von Lempis Ehemann Viljami, der gerade aus dem Krieg zurückkehrt – in ein Zuhause, das für ihn keines mehr ist. Denn Lempi ist weg. Tot. Als Viljami in den Krieg ziehen musste, versprach er ihr, am Leben zu bleiben und zu ihr zurückzukehren. Am Ende war jedoch sie diejenige, die ihr Leben verlor. Ihm und Lempi war nicht einmal ein ganzes, gemeinsames Jahr gegönnt. Auf dieses blickt Viljami zurück, zehrt von jedem gemeinsamen Augenblick und präsentiert uns eine lebensfrohe, selbstbewusste Frau. Dass Lempi nun nicht mehr da ist, beraubt ihn seines Lebensmutes. Er sieht keinen Sinn mehr in seiner eigenen Existenz – ein Gefühl, das durch sein Erleben der Ungerechtigkeit des Krieges verstärkt wird. Als einziger Mann des Dorfes kehrt Viljami körperlich unversehrt zurück. Doch er leidet unter PTBS, für das es zu diesem Zeitpunkt keinen Namen gibt und das selbst vom medizinischen Personal heruntergespielt wird. Stattdessen sagt man ihm nur immer wieder sehr direkt und empathielos, dass ihm nichts fehle, er nach Hause gehen solle und er mit Leichtigkeit eine neue Frau finde, da doch so viele Männer im Krieg fielen.
Diese neue Frau an Viljamis Seite wäre gern Elli – Lempis und Viljamis Magd. Anders als Viljami immer glaubte, waren seine Frau und seine Magd keine guten Freundinnen. Im Gegenteil! Das wird durch Ellis Bericht schnell deutlich: Elli ist voller Hass und Missgunst gegenüber Lempi. Jedes Wort und jede Tat von ihr interpretiert Elli als Arroganz, Überheblichkeit oder Hohn. Als gut ausgebildetes Stadtkind gehört Lempi in Ellis Augen nicht auf Viljamis Hof. Stattdessen sieht Elli sich als einzig richtige Frau an Viljamis Seite – nicht als Magd, sondern als Ehefrau und Mutter. Um diesen Platz zu bekommen, ist sie zu allem bereit …
Den letzten und längsten Rückblick auf Lempis Leben erhalten wir durch ihre Zwillingsschwester Sisko, die viele Jahre im Schatten Lempis stand. Das begann bereits bei der Namenswahl nach der Geburt: Der Name der erstgeborenen Lempi heißt Liebe; der Name ihr jüngeren Zwillingsschwester Sisko bedeutet schlicht Schwester. So zieht sich die Wahrnehmung beider Schwestern viele Jahre hindurch. Lempi ist die hübschere und mutigere von beiden; Sisko die ruhigere, verantwortungsvollere, die ihre Schwester nicht selten vor Schwierigkeiten bewahrt. Bis Sisko eines Tages beginnt, sich abzunabeln: Sie beginnt eine Ausbildung ohne ihre Schwester und verliebt sich in einen deutschen Offizier. Und schließlich gibt Sisko auch den entscheidenden Anstoß, der Lempi mit Viljami zusammenbringt. Nach der Hochzeit verlieren sich die beiden Schwestern räumlich aus den Augen, doch sie bleiben einander eng verbunden.
Siskos Rückblick ist dabei jedoch auch ein Rückblick auf die (Nach-)Kriegsjahre und das Schicksal finnischer Frauen, die eine Beziehung mit einem Deutschen eingingen und dadurch für den Rest ihres Lebens stigmatisiert wurden. Das ist durchaus spannend, stellte für mich aber einen zu großen Bruch zum Konzept des Buches dar. Sisko bzw. Minna Rytisalo vertieft sich zu sehr in Siskos Leben und verliert Lempi dabei viel zu oft aus dem Blick. Immer wieder führt das zu Momenten, die auf mich wirken, als wäre Minna Rytisalo bzw. Sisko das gerade selbst bewusst geworden – dann sagt sie kurz zwei, drei Sätze zu Sisko, die eine gezwungen wirkende Verbindung zum zuvor Geschilderten herstellen sollen, nur um sich dann wieder auf Siskos eigenes Leben ohne Lempi zu konzentrieren. Das macht diesen Abschnitt für mich zäh und sehr enttäuschend.
Viljamis und Ellis Erzählungen empfand ich als deutlich gelungener und runder. Hier hat Minna Rytisalo den perfekten Balanceakt geschafft, etwas über Lempi zu erzählen und gleichzeitig etwas über die beiden Erzählenden zu offenbaren. Besonders Viljamis Abschnitt fand ich vielschichtig, sehr bildlich erzählt und ausgewogen in der Mischung aus Informationen und Emotionen.
Franz Dinda als Viljami, Julia Nachtmann als Elli, Maria Hartmann als Sisko und Daniel Drewes als Erzähler des Prologs sind dabei die perfekten Stimmen dieser Geschichte. Daniel Drewes und Franz Dinda lesen mit ruhiger Stimme und setzen so zu Beginn direkt einen melancholischen Ton. Franz Dinda verleiht Viljami dabei auch eine Zerbrechlichkeit und Schwere, die berühren, ohne dramatisch zu werden. Julia Nachtmann wiederum spricht Elli mit einem scharfen, bissigen Ton, der den Zorn und die Intrigen der Magd unabhängig vom Text spürbar macht. Und Sisko erhält durch Maria Hartmann eine reife, bedächtig klingende Stimme, die in ihrer Retrospektive etwas Unaufgeregtes und zugleich Selbstkritisches mitschwingen lässt.
Gewünscht hätte ich mir jedoch, dass Hörbuch Hamburg Daniel Drewes auch namentlich stärker erwähnt. Als Erzähler des Prologs hat ihn der Verlag lediglich im Inneren des CD-Cases aufgeführt. Auf Vorder- und Rückseite wurde sein Name unterschlagen und es wurden lediglich Franz Dinda, Julia Nachtmann und Maria Hartmann als Sprechende benannt.
Fazit:
Anders als Titel und Klappentext vermuten lassen, handelt es sich bei „Lempi, das heißt Liebe“ (zum Glück!) nicht um einen Liebesroman, sondern um das Mosaik einer Frau und der Menschen, deren Leben sie prägte. Das ist stark, facettenreich und voller Andeutungen erzählt, vertont mit exakt passenden Stimmen. Lediglich der letzte Abschnitt bricht zu sehr mit dem Konzept des Buches und sorgt dafür, dass sich in meine anfängliche Begeisterung eine Enttäuschung mischt, die als letzter Ton des Buches leider besonders nachhallt.
Minna Rytisalo: „Lempi, das heißt Liebe“, Hörbuch, gelesen von Julia Nachtmann, Franz Dinda, Maria Hartmann und Daniel Drewes, aus dem Finnischen übersetzt von Elina Kritzokat, Hörbuch Hamburg 2018, ISBN: 978-3-95713-141-6
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