Als Kaspar an diesem Abend nach Hause kommt, findet er seine Frau Birgit tot in der Badewanne. Ob es Suizid war oder ihr Herz durch Alter und Alkohol zu schwach war, weiß er nicht. Seit Jahren schien Birgit sich selbst und Kaspar immer mehr zu entgleiten – sie war alkoholabhängig, wirkte rastlos, begann ein Leben, in dem für Kaspar kaum noch Platz war und verschloss sich ihm.
Nach ihrem Tod findet Kaspar Aufzeichnungen Birgits, die die Grundlage für einen auf ihrem Leben beruhenden Roman bilden sollten. Dieses Manuskript präsentiert Kaspar eine Birgit, die ihm in mancher Hinsicht völlig fremd ist, die sich als Ostdeutsche in Westdeutschland und später dem wiedervereinigten Deutschland entwurzelt fühlt, aber auch nicht zurück nach Ostdeutschland möchte. Und die Aufzeichnungen bringen ein Geheimnis ans Licht, das Birgit ihrem Mann in all den Jahrzehnten nie anvertraute: Aus einer vorangegangenen Beziehung hat Birgit eine Tochter. Eine Tochter, die Birgit nicht haben wollte und deshalb nach der Geburt niemals wiedersah. Eine Entscheidung, die Birgit zwar nicht bereute, die aber für immer an ihr nagte.
Kaspar beginnt nun, was Birgit nie schaffte: die Suche nach der Tochter. Er findet sie schließlich in einer völkischen Gemeinschaft. Birgits Tochter Svenja ist mittlerweile selbst Mutter. Kaspar gelingt es, Svenja und ihren Mann zu überzeugen, dass ihre Tochter Sigrun die Ferien bei ihm verbringt. Es sind diese gemeinsamen Wochen, die Kaspar wieder Freude am Leben schenken und die Sigrun eine Welt zeigen, die vielfältig, aufgeschlossen und voller Möglichkeiten ist – und die ihr nationalsozialistisches Weltbild immer wieder zum Wanken bringen.
Bernhard Schlinks Roman hat in mir die unterschiedlichsten Gedanken und Meinungen ausgelöst. „Die Enkelin“ greift viele und schwierige Themen auf, schafft es aber, dass diese auf den rund 370 Seiten nicht zu oberflächlich behandelt werden. Vor allem gelingt es dem Autor einen Teil der Gründe aufzuzeigen, wieso die Wiedervereinigung für die Menschen der ehemaligen DDR nicht nur Gutes bedeutete, Distanz und Vorurteile zwischen Ost- und Westdeutschen bestehen blieben oder sich verschärften und was all das mit dem Wiedererstarken des Rechtsextremismus zu tun hat. Es gab Stellen, in denen ich den Roman seitenweise markieren wollte für diese treffende Analyse Schlinks – Bernhard Schlink hat „den Osten“ so viel besser verstanden als die meisten Politiker*innen oder Journalist*innen.
Zweifel hatte ich anfangs an den Versuchen Kaspars, Sigruns politische Ansichten zu ändern. Zu leicht und damit zu unrealistisch schien ihm das anfangs zu gelingen. Doch so naiv ist Bernhard Schlink dieses Unterfangen nicht angegangen und er schafft es, Sigruns Zweispalt zwischen ihren zwei Lebenswelten und die Grenzen von Kaspars Mühen aufzuzeigen.
Weniger gelungen fand ich indes den ersten Teil des Romans, der aus Kaspars Auseinandersetzung mit Birgits Tod und Birgits autobiografischem Manuskript besteht. Trotz der spannenden und wichtigen Themen ziehen Birgits Aufzeichnungen sich sehr in die Länge und Birgits Gedanken zu ihrer Tochter, zu ihrem späteren Leben und zu Kaspar wiederholen sich wieder und wieder. Auch präsentieren sie Birgit als eine undankbare, unaufrichtige und unsympathische Person. Immer wieder kritisiert sie Kaspar, dass er sie nicht verstehe, obwohl sie sich ihm nie öffnete und ihn abwies, wenn er Gespräche mit ihr suchte. Sie macht ihm Vorwürfe und Unterstellungen, nur um ein paar Zeilen später festzuhalten, dass sie seine Liebe nicht verdient. Ähnlich verletzend schreibt sie über sich selbst und andere Menschen aus ihrer Vergangenheit. Ihr Manuskript las sich für mich wie ein Versuch, vor sich selbst zu rechtfertigen, was sie alles falsch gemacht hat. Birgit plagt das schlechte Gewissen gegenüber ihrer Tochter, weil sie Schreckliches über Kinderheime in der DDR las und ein Foto von einem Mädchen in Springerstiefeln sah, das ihre Tochter sein könnte. Birgit möchte ihre Tochter nach all den Jahren kennenlernen. Gleichzeitig vergewissert sie sich und den Lesenden immer wieder, dass ihre damalige Entscheidung gegen das Kind die richtige war.
Nicht klar wurde für mich, warum Birgit und Kaspar überhaupt ein Paar wurden und blieben. Beide lernten sich in den 1960ern in Ostberlin kennen, als Kaspar als westdeutscher Student an Austauschtreffen mit Studierenden aus Ostberlin teilnimmt. In der Ich-Perspektive erzählt lässt Kaspar uns zwar wissen, dass er Birgit attraktiv und interessant findet, dass er sie liebt. Aber was er genau an ihr liebt, bleibt im Unklaren. Bei Birgit verhält es sich ebenso. Sowohl in den Rückblicken auf ihre ersten Jahre als auch in Birgits Manuskript entsteht immer wieder der Eindruck, dass Birgit keine ernsthafte Liebe für Kaspar empfand, dass sich diese Beziehung sozusagen einfach ergeben hätte und eher eine Zweckbeziehung für Birgit darstellte. Lediglich bei Kaspar gehen die Worte über Liebe auch in ein Handeln über. Wenn Kaspar alles dafür tut, dass Birgit aus Ostdeutschland fliehen kann, wenn er später trotz Alkoholismus, verbalen Gemeinheiten und Rückzug aus der gemeinsamen Beziehung zu ihr hält und sich um sie kümmert, wenn er sie ins Bett trägt, vor dem Bett sitzen bleibt und sich an ihre gemeinsamen Momente erinnert, dann wird Kaspars Liebe zu Birgit greifbar – auch wenn die Basis dieser Liebe für mich unergründlich blieb.
Entsprechend haderte ich sehr mit dem ersten Teil des Romans. Ab dem zweiten Teil, in dem Kaspar nach Birgits Tochter sucht und die gemeinsame Zeit von Kaspar und Sigrun im Fokus stehen, wurde ich für den schwachen Anfang jedoch entschädigt.
Fazit:
Bernhard Schlink konfrontiert uns in „Die Enkelin“ mit schwierigen Figuren und vielen anspruchsvollen Themen. Der Balanceakt zwischen den Themen gelingt gut und trotz etlicher Fakten und Analysen gesellschaftlicher Entwicklungen kommen das Interpersonelle und die Emotionen nicht zu kurz. Lediglich Birgits Manuskript und die Anfänge von Birgits und Kaspars Beziehung hätten noch besser ausgearbeitet werden können.
Bernhard Schlink: „Die Enkelin“, Diogenes 2021, ISBN: 978-3-257-07181-8
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