Die Neuverfilmung des Klassikers „West Side Story“ führte mich im Dezember zum ersten Mal seit Monaten wieder ins Kino und zum zweiten Mal seit der Pandemie zurück in eine Musicalinszenierung – mit entsprechend großer Euphorie! In die begeisterten Kritiken kann ich aber leider nicht einstimmen. Steven Spielbergs Film macht vieles verdammt gut, schwächelt aber auch an mindestens genauso vielen Stellen.
Worin Steven Spielbergs Umsetzung überzeugt, ist die Atmosphäre. Seine Geschichte um die befeindeten Banden Jets und Sharks und um das „Romeo und Julia“-Thema ist deutlich düsterer, realistischer und ernster umgesetzt. Das reicht von den Sets, Requisiten und Kostümen bis hin zur Story. Schon in den ersten Minuten des Films wird klar, wie hart das Leben sowohl für die puerto-ricanischen Sharks als auch für die sich beraubt und verloren geglaubten Jets ist. Steven Spielberg und Drehbuchautor Tony Kushner geben beiden Banden Tiefe und Raum, um dem Publikum deutlich zu machen, welche Verzweiflung, Vorurteile und Ängste die Jets und Sharks zu ihrer Feindschaft treiben. So rührt die Wut der Jets auf die Sharks nicht von bloßem Rassismus her, sondern fußt tief in der Angst, alles zu verlieren, was einst ihre Realität war: Ihre Umgebung ändert sich komplett, ganze Viertel werden neu gebaut und ohne vernünftige Ausbildung und Jobs sehen die Jungs für sich selbst keinerlei Perspektive, es jemals besser zu haben. All das kanalisiert sich in ihren Augen in dem wachsenden Anteil an Puerto Ricanern, die für die Jets zu einer Art Sündenbock herhalten müssen.
Teil einer Bande zu sein, heißt vor diesen Hintergründen: Stabilität, Halt und die Absicherung, dass immer jemand hinter dir steht und mit dir gemeinsam durch diese Scheiße geht. Aber Teil einer Bande zu sein heißt eben auch: brutalste Gewalt. Das Ausmaß des Bandeskrieges ist längst nicht auf dem Schulhofniveau, wie wir es aus früheren Versionen der „West Side Story“ kennen. In Spielbergs und Kushners Adaption wird alles zur Waffe, was sich finden lässt: Steine, rostige Nägel, Ketten, Baseballschläger, Schlagstöcke, Messer und schließlich auch Pistolen. Zweifel oder Hinterfragen dieser ganzen Gewalt sucht man bei den Bandenmitgliedern vergeblich. Nur der (ehemalige) Jet Tony (Ansel Elgort) hat sich nach einem Jahr im Gefängnis von der Bandengewalt abgewendet und kritisiert mittlerweile die sinnlose Gewalt und Feindschaft. Als er und die Puerto Ricanerin Maria (Rachel Zegler) sich ineinander verlieben, sehen das aber sowohl die Jets als auch die Sharks als Grenzüberschreitung und der Bandenkrieg eskaliert.
Auf Ebene der Liebesgeschichte versagt die Neuverfilmung aber leider total. Die Szene, als sich Tony und Maria zum ersten Mal begegnen, wirkt unspektakulär, kühl und distanziert. Der Funke, der anscheinend zwischen ihnen überspringt, überträgt sich nicht auf mich als Zuschauerin. Die Neugier aufeinander, das Glänzen in den Augen habe ich vergeblich versucht. Dass sich hier gerade zwei Menschen unsterblich ineinander verlieben, ließ sich bei Ansel Elgort und Rachel Zegler jedenfalls nicht erkennen. Rachel Zeglers Maria taut im weiteren Verlauf deutlich auf und wird in ihrer Mimik und Stimme noch richtig stark. Das Drehbuch hat Tony und Maria aber fast keine wirklich innigen, intimen Momente ermöglicht; beide sind immer irgendwie gehetzt und gedanklich schon bei anderen Themen, Terminen und Angelegenheiten.
Dass Ansel Elgort als Tony sowohl stimmlich als auch schauspielerisch schwach und ausdruckslos ist, ist für die Romantik ebenso wenig förderlich. Elgorts Mimik ist nahezu immer die gleiche – egal, ob er gerade vor Liebe zu Maria zerfließt, von Valentina lernt, mit Riff diskutiert oder arbeitet. Genauso monoton singt Ansel Elgort leider auch. Der Stephen-Sondheim-Song „Maria“ ist eh schon ein Titel, der mir wegen seiner ständigen Namenswiederholung schnell auf die Nerven geht. Wenn der Name „Maria“ in rund 3 Minuten dann aber auch noch 30-mal auf die immer gleiche Weise gesungen wird, möchte ich nur noch zum nächsten Lied skippen. Dabei gibt der Song durchaus genug Raum, um mit der Betonung des Namens zu spielen.
Auch der eigentlich vor Spannung überquellende Song „Something’s Coming“ ist von Ansel Elgort eher auswendiggelernt vorgetragen. Das aufgeregte Kribbeln des Neuen, Lebensverändernden, das hinter der nächsten Ecke lauern könnte, das erwartungsvolle Bauchgefühl kann Elgort nicht annähernd einfangen.
Blass und schablonenhaft bleiben in Spielbergs Inszenierung auch viele andere Figuren. Neben Rachel Zegler als Maria stechen lediglich David Alvarez als Bernardo, Ariana DeBose als Anita und Iris Menas als Anybodys hervor.
Der Rolle von Anybodys haben Tony Kushner und Iris Menas für die Neuinterpretation der West Side Story die verdiente Hintergrundgeschichte gegeben. War Anybodys in bisherigen Inszenierungen immer nur Tomboy und eine (zu Unrecht) belächelte Figur, handelt es sich in Spielbergs Verfilmung um eine nicht-binäre Rolle, die richtigerweise mit Iris Menas auch von einer nicht-binären Person verkörpert wird. Anybodys Identität kommt damit raus aus dem Klischee und wird im Film explizit thematisiert. Das wirft Fragen nach Zugehörigkeit und Akzeptanz auf und verleiht der Rolle mehr Gewicht, Substanz und (gesellschaftliche) Relevanz.
Die für mich stärkste und prägendste Figur ist jedoch Bernardos Freundin Anita, gespielt von Ariane DeBose. In ihr treffen puerto-ricanische Tradition und Optimismus für das neue Leben in den USA aufeinander, gepaart mit einer Menge Stolz und Selbstbewusstsein. Sie träumt von einer besseren Zukunft, hält aber trotzdem an den Werten ihrer Heimat fest. Damit steht Anita nicht nur symbolisch für viele Frauen in ihrer Situation, sondern ist neben Valentina (gespielt von Rita Moreno), die in Spielbergs Version den Ladenbesitzer Doc ersetzt, die passende Figur, um in der gefährlichen Liebe von Tony und Maria gleichzeitig zu unterstützen und zu warnen. Ariana DeBose spielt Anita dabei in jeder noch so kleinen Aufnahme ausdrucksstark und prägnant, sodass sie für mich schon nach wenigen Szenen zum Highlight der Verfilmung avanciert.
Nicht überraschend, dass für mich auch die am stärksten wirkende Szene eine mit Anita ist. Als Anita zu Valentina geht, um Tony eine Nachricht von Maria zu bringen, wird das zur beklemmendsten und beängstigenden Stelle des Films. Obwohl ich wusste, was Anita erwarten würde, hat mich die Umsetzung noch einmal heftig erwischt und sich mir tief eingebrannt.
Spoiler
Gänsehaut hat mir dabei auch bereitet, dass die Jet-Girls sofort eine Gruppenvergewaltigen ahnen und wie verzweifelt sie versuchen, ihrer einstigen Feindin zu helfen, am Ende aber doch nichts tun können.
Solch markante Szenen, die auch ohne viele Worte funktionieren, hätte ich mir mehr gewünscht. Leider ist aber die gesamte Dramaturgie zu unausgeglichen, um mich als Zuschauerin in den Bann zu ziehen: Das erste Drittel ist zäh und bringt uns inhaltlich kaum voran. Nach dem Aufeinandertreffen von Maria und Tony geht dafür vieles zu schnell und die Charakterisierung der Figuren und ihrer Beziehungen zueinander kommt zu kurz.
On top zu alldem kommen noch billige Lichtreflexe: Sobald Gegenlicht auf die Kamera trifft, zeigt sich das in hässlichen Streifen, die den Eindruck erwecken, als wäre die Kamera fleckig oder als stünde zwischen Kamera und Set eine zerkratze Plexiglasscheibe. Das sieht nicht nur unprofessionell aus, sondern strapaziert schon nach kürzester Zeit meine Augen und Nerven.
Fazit:
Steven Spielbergs Neuverfilmung des Musical-Klassikers „West Side Story“ überzeugt durch die deutlich härtere, kaltblütigere Realität des Settings, eine beeindruckende Anita und einer respektvollen und würdigen Charakterisierung von Anybodys. Die Dramaturgie, die Liebesgeschichte, die männliche Hauptrolle und die meisten Nebenfiguren kommen jedoch nicht über ein schwaches Mittelmaß hinaus.
Geplauder