Eine Weihnachtsgeschichte mitten im Juli? Ja, das ist merkwürdig. Aber erstens bin ich keine Saisonleserin und mache meine Lektüre nicht von Jahreszeiten oder Anlässen abhängig. Und zweitens ergab sich die Lektüre eher zufällig: Immer, wenn mich in diesem Jahr die Wanderlust packt, ich aber vorerst nicht in die Natur komme, greife ich zu einer Kurzgeschichte aus der Anthologie „Durch die Wälder“, die der Diogenes Verlag 2019 herausgab. Dieses Mal war „Misakos Weihnachtsbaum“ von Doris Dörrie an der Reihe.

Doch um das Saisonlesen soll es an dieser Stelle gar nicht gehen, sondern um das Thema Rassismus und die Darstellung japanischer Menschen und Gepflogenheiten als andersartig. Vorab: Ich weiß, dass Doris Dörrie sich immer wieder gegen Rassismus ausspricht. Aber Rassismus abzulehnen bedeutet nicht automatisch, auch immer anti-rassistisch zu agieren. Das gilt für uns alle – für Doris Dörrie ebenso wie für mich selbst. Wir als Individuen und Gesellschaft können unsere -Ismen aber nur abbauen, wenn wir uns ihrer bewusst (gemacht) werden. Genau deshalb schreibe ich diesen Beitrag – nicht als Anklage, sondern als Sensibilisierung.

In „Misakos Weihnachtsbaum“ erzählt Doris Dörrie von einer deutschen Frau, die Weihnachten in Japan verbringt und dabei eine Japanerin kennenlernt, die von ihrer früheren Liebe zu einem Deutschen erzählt, der sich eines Tages in einen Weihnachtsbaum verwandelte. Dabei grenzt sich die Ich-Erzählerin immer wieder von den Menschen in Japan ab, rückt pausenlos die Unterschiede in den Fokus, stellt japanische Bräuche und Routinen als „merkwürdig“ dar und erfreut sich daran, Regeln und Traditionen zu brechen, sobald sie sich unbeobachtet fühlt.

Darstellung des japanischen Lebensstils als anders und eigenartig

Das beginnt bereits im dritten Absatz der Kurzgeschichte, als die Erzählerin von ihrer Zugfahrt nach Kurama berichtet:

„Ich hielt meine Beine aneinandergepresst, die Handtasche auf den Knien, ganz so, wie es die Warnhinweise mir befahlen, um nicht unnötig viel Platz einzunehmen. Brav aß und trank und telefonierte ich auch nicht, aber kein Japaner setzte sich neben mich, weil ich groß und blond bin, eine gaijin, eine von draußen, die alles richtig machen wollte, um drinnen zu sein in diesem Japan. Mein Fahrrad hatte ich ordentlich im Fahrradparkhaus geparkt und den hinteren Reifen dieses Mal genau auf Linie gestellt, nachdem ein Parkwächter mich nicht etwa zurechtgewiesen, sondern vor meinen Augen mein Fahrrad millimetergenau geradegerückt hatte. Man duldete mich und war höflich zu mir, was sich manchmal wie Respekt und manchmal wie Abweisung anfühlte“ (S. 44 f.)

Allein in diesen wenigen Worten konzentriert sich die Erzählerin allein darauf, wie „anders“ alles im Vergleich zu ihrem Alltag in Deutschland ist. Sie hält sich nicht aus Respekt an die Regeln und Gepflogenheiten, sondern um nicht aufzufallen, keinen Ärger zu bekommen, aus dem Wunsch „dazuzugehören“. Dabei macht sie deutlich, dass sie all die Routinen und Bräuche eigentlich lächerlich findet, indem sie das Korrigieren ihres Rades durch den Parkwächter kritisiert und ihr eigenes Verhalten als „brav“ belächelt – als wäre sie ein Hund, der gerade die Zeitung gebracht hat und dafür belohnt und gelobt werden müsste. Dass sich niemand zu ihr setzt, sie sich nur geduldet und ausgegrenzt fühlt, sieht sie ausschließlich darin begründet, dass sie eine „Fremde“ in Japan ist. Sie wirft den Japaner*innen damit Ausländer*innenfeindlichkeit vor, ist aber selbst diejenige, die sich wieder und wieder von den Japaner*innen distanziert und Othering betreibt.

Als sie später allein im Onsen ist, genießt sie nicht die damit verbundene Ruhe und Erholung, sondern erfreut sich lieber daran, die Kultur mit Händen und Füßen zu treten:

„absichtlich beging ich allerlei Badesünden, die im onsen untersagt sind: Ich wusch mir mit dem winzigen weißen Handtuch, das ich am Eingang für ein paar Yen gekauft hatte, mehrmals das Gesicht, tauchte ganz unter Wasser und ließ mich schließlich auf dem Rücken treiben. Zufrieden schaute ich in den weißen Dampf“ (S. 45)

Doch entgegen ihrer Annahme ist sie nicht allein im Onsen: Eine alte Japanerin namens Misako gesellt sich zu ihr und zeigt ihr, wie frau sich im Onsen korrekt verhält. Die Erzählerin verfällt prompt in eine trotzige Abwehrhaltung. Sie wird rot und beginnt, sich zu verteidigen, zu sagen, dass sie weiß, wie das gehe und dass sie alles andere natürlich korrekt ausgeführt habe. Doch sie fühlt sich nicht schlecht, weil sie respektlos mit der japanischen Badekultur umgegangen ist, sondern ärgert sich nur darüber, dass sie erwischt wurde.

Von der Fixierung auf Äußerlichkeiten und „positivem“ Rassismus

Überhaupt ist das größte Problem der Erzählerin, dass Misako trotz ihres höheren Alters anscheinend einen viel besseren Körperbau und eine bessere Haut hat. Hier greift Doris Dörrie ordentlich in die Klischeekiste: Misako wird als makellos beschrieben, als bilderbuchhaft weiß, glatt und zierlich mit ihrem „alterslose[n] Alabasterkörperchen, dem Cellulitis völlig fremd war.“ (S. 46) Und natürlich liegt das nach Ansicht der Erzählerin allein an ihren japanischen Genen, die darin eine Entschuldigung für die Unzufriedenheit mit ihrem eigenen Körper sucht: „der Unterschied zu einer normalen westlichen Figur und Haut war offensichtlich.“ (S. 46)

Allein dieser letzte Satz ist auf so vielen Ebenen falsch! Das fängt schon damit an, dass von einer „normalen westlichen Figur und Haut“ gesprochen wird. Was bitteschön soll das sein? Wenn ich das Haus verlasse, mich im Freund*innen- und Kolleg*innenkreis umschaue, sehe ich keine Haut, keinen Körper, die der Haut und dem Körper eines anderen Menschen gleicht. Wie sieht so ein vermeintlich normaler Körper denn aus? Und sind dann alle, die nicht so aussehen, direkt unnormal und eigenartig? Weniger attraktiv und liebenswert? Menschen(gruppen) anhand von Äußerlichkeiten zu bewerten und in Schubladen zu stecken, ist immer verletzend und diskriminierend. In „Misakos Weihnachtsbaum“ ist dieses Verhalten nicht nur hinsichtlich der vermittelten Botschaft über Körper und vermeintliche Schönheitsideale problematisch, sondern zugleich rassistisch. Ja, die Erzählerin ist neidisch auf die äußere Erscheinung Misakos und findet deren Körper schön, doch bedient sich Doris Dörrie damit des Stereotyps, dass Japanerinnen per se schlank sind und eine Haut wie Porzellan haben. Und nur weil das als attraktiv betrachtet wird, ist es nicht weniger kritisch. Denn vermeintlich „positive“ Zuschreibungen auf Basis von Religion, Hautfarbe oder Nationalität sind ebenfalls Vorurteile und alles andere als „gut gemeint“.

Dass die Erzählerin ausschließlich auf das Äußerliche fixiert ist, an Misakos Körper permanent nach winzigen „Makeln“ sucht und innerlich triumphiert, dass Misako später in ihrer schlichten Kleidung prompt 20 Jahre älter wirkt, kommt zum Rassismus und zur Respektlosigkeit der Erzählerin on top. Auch legt es ein weiteres Problem einer Gesellschaft offen, die sich nur zu gern an anderen misst und den Wert eines Menschen daran bemisst, wie attraktiv, erfolgreich, sportlich, reich, talentiert er*sie im Vergleich zu anderen ist.

Selbstreflexion? Fehlanzeige

All das lässt sich bereits auf den ersten vier der insgesamt neun Seiten umfassenden Kurzgeschichte finden. Die Hälfte des Textes – prall gefüllt mit ethisch problematischen Darstellungen und Äußerungen. Ich hatte die Hoffnung, dass Doris Dörrie das Verhalten ihrer Erzählerin im weiteren Verlauf aufgreift, reflektiert. Doch die Chance zur kritischen Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Rassismus hat die Autorin nicht genutzt. Stattdessen konzentriert sie sich auf den letzten fünf Seiten von „Misakos Weihnachtsbaum“ ausschließlich auf die Erzählung von Misakos Liebe zu ihrem deutschen Professor und die Erzählerin verkommt zum bloßen Mittel zum Zweck, damit es eine Person gibt, der Misako ihre Geschichte überhaupt erzählen kann.

Misakos Geschichte, die an ein modernes Märchen anmutet, wirkt zudem unvollständig, unausgereift. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Und so beendete ich die Lektüre von „Misakos Weihnachtsbaum“ wütend, frustriert und mit der Frage, was Doris Dörrie mit ihrer Kurzgeschichte überhaupt bewirken wollte.

Fazit:

Modernes Märchen, das nur so vor Rassismus, Klischees und fragwürdigen Menschenbildern strotzt.

Doris Dörrie: „Misakos Weihnachtsbaum“, in: „Durch die Wälder. Ein Waldspaziergang der besonderen Art“ (Geschichten ausgewählt von Anna von Planta), Diogenes 2019, ISBN: 978-3-257-24511-0