„Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ zählen zu den wenigen Büchern, an denen Kinder wie Erwachsene gleichermaßen ihre Freude haben, die unterhaltsam und clever zugleich sind und die trotz oder gerade wegen ihres Nonsens überraschend viel Logik und Wahrheit enthalten. Während meiner Studienzeit habe ich mindestens einmal im Jahr in den beiden Büchern gelesen – manchmal beide Bände komplett, manchmal nur eines davon oder auch nur ausgewählte Kapitel. Doch egal, wie oft ich darin las: Es gab immer ein Detail, eine Anspielung, ein Wortspiel oder eine Bedeutung, die sich mir neu erschlossen. Je nach persönlicher Verfassung und Lebensphase nahm ich Figuren, Sätze und Szenen auch ganz unterschiedlich wahr. So etwas passiert in der Regel immer dann, wenn die Autor*innen ein extrem gutes Auge und Feingefühl für Zwischenmenschliches, Charaktere, Gesellschaften und Politik haben und mit immensen Wissensdurst und unerschöpflicher Neugier durch die Welt gehen. Das war auch bei Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll der Fall.

Wer sich mit den Hintergründen der Alice-Bücher oder dem Autor Lewis Carroll beschäftigt, stößt schnell auf Alice Liddell, die Muse und Vorbild für die fiktionale Alice war, und auf die legendäre Bootsfahrt der drei Liddell-Schwestern, während der Charles Dodgson aus dem Stegreif die erste Version von „Alice im Wunderland“ erfunden haben soll. Und ja, sehr schnell stößt man auch darauf, dass Dodgson sich zu der kleinen Alice hingezogen fühlte. All diese Dinge werden natürlich auch in „Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann“ aufgegriffen, wenngleich Peter Hunt sich hier nicht in Spekulationen verliert und das nur allzu Bekannte relativ kurz anreißt. Viel mehr geht es Peter Hunt in seinem Buch darum, den Menschen Charles Lutwidge Dodgson näher zu beleuchten, seinen Charakter und seine Eigenheiten greifbar zu machen und das Wechselspiel aus inneren und äußeren Umstände zu verdeutlichen.

Auf 122 reich bebilderten Seiten führt der ehemalige Literaturprofessor Peter Hunt uns nach Oxford und London, weckt den Alltag des viktorianischen England für uns zum Leben, räumt mit dem Mythos der Bootsfahrt auf, spürt den inneren und äußeren Einflüssen nach und schafft Verknüpfungen zwischen Realität und Wunderland. Dabei erfahren wir auch, welche Zeitgenossen der Mathematiker, Fotograf und Autor Charles Dodgson in seinen beiden Alice-Büchern verewigte – oder eventuell verewigte, denn nicht immer ist dies eindeutig und um so manche Wunderland-Figur oder -Szene ranken sich mehrere Theorien. Hunt macht daher auch immer wieder deutlich, dass das Analysieren der Alice-Bücher ein gewaltiger Balanceakt ist: Einerseits ist bekannt, dass Dodgson reale Figuren und Ereignisse aufgegriffen hat, dass die Bücher voller Symbole, Bilder, Karikaturen und Anspielungen stecken; andererseits lädt genau das aber dazu ein, zu viel hineinzuinterpretieren, Dinge hineinzulesen, die so nicht vorhanden sind und folglich vollkommen abwegige Theorien aufzustellen, welche den realen Personen und Ereignissen falsche oder übertriebene Bedeutungen verleihen.

Da ich mich in den letzten zwei Jahrzehnten häufiger mit Charles Dodgson, Alice Liddell und den Hintergründen der Bücher beschäftigt habe, war mir einiges aus Peter Hunts Buch natürlich längst bekannt. Trotzdem hielt „Die Erfindung von Alice im Wunderland“ auch für mich etliche neue Theorien, Hintergrundinformationen und Ansätze bereit oder hat Vertrautes noch einmal in ein anderes Licht gerückt. Beispielsweise war mir bis dato unbekannt, wie perfektionistisch Dodgson in Bezug auf die visuelle Gestaltung seiner Bücher war oder welche Rolle Charles Darwin und seine Evolutionstheorie in Dodgsons Leben und Schaffen sowie seinem eigenen sozialen Umfeld spielten. Sehr spannend fand ich auch die Erläuterungen zur Kinderliteratur im viktorianischen London und habe große Lust bekommen, mich näher mit diesem Thema auseinanderzusetzen (Literatur-, Podcast-, Film- oder Serienempfehlungen hierzu nehme ich gerne an). Generell enthielt „Die Erfindung von Alice im Wunderland“ vieles, über das ich gerne mehr gelesen hätte, Theorien, in die ich gerne tiefer eingestiegen wäre, Personen und Ereignisse, über die ich gerne mehr wissen würde. So sind die 122 Seiten für mich eher ein Appetizer, mich erneut und tiefer in Wunderland zu verirren.

Fazit:

Peter Hunts „Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann“ ist ein gelungener Rundumschlag über all die persönlichen und gesellschaftlichen Inspirationen und Umstände, Theorien und Mythen, die Lewis Carrolls Alice-Bücher prägten und die anhaltende Faszination der Wunderland-Geschichten und -Figuren ausmachen. Für jene, die zunächst einen Einstieg in die Hintergründe der Alice-Bücher suchen, ist dieses schmale, aber dennoch vielschichtige und informationsreiche Buch der ideale Startpunkt. Alle, die wie ich schon vertrauter mit den Werken und ihrer Entstehungsgeschichte sind, werden aber ebenfalls Neues entdecken, eine andere Sicht auf Bekanntes erlangen und Lust bekommen, noch einmal in den Kaninchenbau zu fallen.

Peter Hunt: „Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann“, aus dem Englischen übersetzt von Gisella M. Vorderobermeier, wbg THEISS 2021, ISBN: 978-3-8062-4264-5