„Unruhige Geister und stille Gefährten“ ist nach „Im Jahrtausendwald“ das zweite, postum veröffentlichte Buch Jiro Taniguchis. Doch während uns „Im Jahrtausendwald“ den Beginn eines großen Herzensprojektes des Mangakas sowie liebevolle Erinnerungen seiner Wegbegleiter präsentiert, bündelt „Unruhige Geister und stille Gefährten“ Kurzgeschichten, Skizzen, ein Essay und einen unvollendeten Manga.

Allen Geschichten gemein ist das Auftreten von Geistern und ungewöhnlichen Erscheinungen. Immer wieder werden die Menschen in irgendeiner Form mit der Vergangenheit konfrontiert. In der Kurzgeschichte „Aus einer anderen Welt“ taucht eines Tages ein junger Mann an der Küste einer kaum besiedelten Insel auf. Er weiß weder wie er hierherkam noch wer er überhaupt ist. Doch nach und nach kehrt die Erinnerung zurück und er steht vor der Entscheidung, welches Leben er fortführen möchte.

Mit den Geistern längst verstorbener oder vergessener Personen werden indes die Protagonisten in „An einem unbekannten Ort“ und „Die Begleiterin“ konfrontiert. Letzteres ist die Ende 2016/ Anfang 2017 begonnene, unvollendete Adaption der Kurzgeschichte „Schattenreich“ von Hyakken Uchida. Ein Mann spaziert eines Abends auf einem Damm, als ihm eine unbekannte Frau entgegenkommt. Gemeinsam setzen sie den Weg fort. Doch obwohl der Mann spürt, dass seine Begleiterin nichts Gutes verheißt, kann er sich ihr nicht entziehen und folgt ihr immer weiter, hin an einen unbekannten Ort.

In den zwei Kurzgeschichten aus „An einem unbekannten Ort“ („In der Teetasse“ und „Die Sirupkäuferin“) hat der Schriftsteller Lafcadio Hearn, der später unter dem Namen Yakumo Koizumi in Japan lebte, Visionen von vergangenen Zeiten. Kleine Momente im Alltag lassen ihn einen Blick auf mysteriöse Ereignisse werfen. Jiro Taniguchi hat dabei auch Koizumis Erzählung „In a Cup of Tea“ gekonnt adaptiert und mit dem Leben des Schriftstellers verwoben.

In eine ganz andere Richtung geht „Der magische Berg“. In dieser Geschichte begleiten wir einem Geschwisterpaar, dessen Sommerferien von einer schweren Erkrankung der Mutter überschattet werden. Als die Trauer und Sorgen für den Jungen Ken’ichi zu groß werden, läuft er einfach los – und landet im Heimatmuseum, wo er von einem Salamander angesprochen wird. Kurz darauf müssen Ken’ichi und seine Schwester ihre Ängste bezwingen und über sich selbst hinauswachsen, um ihre Mutter und den geheimnisvollen Berg zu retten.

Ich muss gestehen, als ich „Unruhige Geister und stille Gefährten“ beendete, wusste ich zunächst nicht, wie mir die einzelnen Geschichten gefallen haben. Viel zu kurz erschienen sie mir, zu viel blieb ungesagt. Sie wirkten wir ein Appetizer. Ich wollte mehr, wollte noch tiefer in die Geschichten eintauchen, noch mehr über die Figuren und ihre Geschichten erfahren.

Inzwischen sind einige Tage seit der Lektüre vergangen. Lafcadio Hearn / Yakumo Koizumi und Hyakken Uchida stehen auf meiner Liste der zu entdeckenden Autoren. Wieder einmal stelle ich fest, dass ich mehr japanische Literatur lesen möchte und Taniguchis Erzählungen wollen mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Daher muss ich sagen: „Chapeau, Taniguchi-Sensei!“

Jiro Taniguchi war schon immer ein Meister darin, Dinge unausgesprochen zu lassen. Seine Stärke liegt in der Bildsprache und in der Kommunikation dessen, wofür es keine Worte gibt oder keiner Worte bedarf. In seinen Mangas lesen wir nicht, wir sehen, fühlen, riechen, schmecken, erfahren. Wichtiger als das, was erzählt wird, ist, wie es erzählt wird und was es in uns bewirkt. Das hat der Mangaka mit seinen letzten Geschichten erneut bewiesen. Dabei werden auch immer wieder Themen deutlich, die den Mangaka zunehmend beschäftigt haben – allen voran das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das auch im Fokus von „Im Jahrtausendwald“ steht.

Unverändert beeindruckend ist dabei natürlich Taniguchis Zeichenstil. Wie gewohnt sind seine Figuren mit klaren Linien gezeichnet, einfach und kontrastreich, aber zugleich mit starker Mimik, wohingegen Landschaften und weitere Schauplätze in vielen Schattierungen und fotografischer Präzision festgehalten sind. Doch zeugen die Geschichten dieses Mal auch davon, wie gezielt Taniguchi in seinen letzten Lebensjahren zu anderen Techniken und Stilen griff. Die Rückblenden in „An einem unbekannten Ort“ sind beispielsweise deutlich dunkler gehalten als die Szenen, in denen wir bei Yakumo Kaizumi sind. „Aus einer anderen Welt“ ist hingegen der einzige Manga mit blaugrauen Schattierungen – passend zum Setting am Meer. Und „Die Begleiterin“ folgt sogar einer ganz anderen Zeichentechnik. Hier arbeitete Taniguchi vorrangig mit Bleistift, heller Tusche und Deckfarbe statt mit Tinte.

Neben den Bildern und Geschichten wird mir jedoch vor allem Jiro Taniguchis Essay „Mein Frankreich“ in Erinnerung bleiben. In diesem schildert der Mangaka seine erste Reise nach Frankreich, die Begegnungen mit franko-belgischen Künstlern und sein Interesse an der europäischen Comickultur. Dabei sprüht aus jeder einzelnen Zeile so viel Liebe und Begeisterung, dass unverkennbar ist, welch besondere Bindung zwischen Taniguchi und Frankreich bestand – und wie bescheiden der Mangaka war! Obwohl Jiro Taniguchi in Europa selbst zu den hoch geschätzten Künstlern zählt, spricht er mit solcher Bewunderung über europäische Künstler, als wäre er nur ein einfacher Leser wie wir: „Einer von ihnen war Moebius, der für mich den Status eines Gottes innehat.“

Taniguchi beendet sein Essay mit dem Gedanken: „Eines Tages möchte ich eine Paris-Version von Der spazierende Mann zeichnen.“ Dazu sollte es leider nicht kommen. Aber vielleicht können wir uns alle von ihm inspirieren lassen, unsere Umwelt (neu) zu entdecken, mit einem Blick für die kleinen, alltäglichen, zunächst unscheinbaren Dinge.

Fazit:

„Unruhige Geister und stille Gefährten“ fühlt sich wie ein Rundgang durch Jiro Taniguchis Atelier an – hier eine Skizze, da eine Anekdote, dort ein Werk mitten im Entstehungsprozess. Damit ist es nichts für jene, die den Mangaka erst kennenlernen wollen. Für alle anderen dagegen ist es wie die Rückkehr zu einem vertrauten Freund und ein Ausblick darauf, wohin sich Taniguchis Gesamtwerk noch entwickelt hätte.

Jiro Taniguchi: „Unruhige Geister und stille Gefährten“, aus dem Japanischen übersetzt von Miyuki Tsuji, Carlsen Comics 2019, ISBN: 978-3-551-77880-2