Wohl jeder von uns weiß, wie sehr das ständige Gesumme von Fliegen und Mücken im Sommer die Nerven strapazieren kann und wie schwer es ist, diese Insekten von unseren Leckereien fernzuhalten. So ergeht es auch dem Schneider im Grimmschen Märchen. Doch mit einer gehörigen Portion Glück erwischt er auf einen Schlag sieben Fliegen, die es auf sein Musbrot abgesehen hatten. Das erfüllt das arme Schneiderlein mit so viel Stolz, dass er – völlig überzeugt von seinen Fähigkeiten – diesen Sieg aller Welt zeigen möchte. Kurzerhand näht er sich einen Gürtel, der seine Leistung verkündet, und zieht hinaus in die Welt. Auf seiner Reise begegnet er einem starken Riesen, den er mit klugen Tricks mehrfach überlistet, und tritt später in die Dienste des Königs ein, nachdem dessen Bedienstete die prahlhafte Stickerei „Sieben auf einen Streich“ fälschlicherweise auf sieben erschlagene Menschen beziehen. Wer nun meint, dass die Wahrheit am Hofe des Königs ans Licht kommen müsse, der irrt, denn auch die Aufgaben, die der König ihm stellt, kann das Schneiderlein durch clevere Tricks erfüllen, sodass ihm am Ende die Königstochter und ein halbes Königreich gehören.
„Das tapfere Schneiderlein“ gehört wohl zu den unterhaltsamsten Märchen der Brüder Grimm und endet im Vergleich zu vielen anderen Märchen nicht mit dem qualvollen Tod der Gegenspieler. In meiner Kindheit war die Geschichte vom Schneiderlein daher immer wieder eine willkommene Abwechslung zu den herkömmlichen Märchen voller Prinzen, Prinzessinnen und heimtückischer Wölfe. Dennoch hatte ich zu diesem ungewöhnlichen Helden und den Botschaften von „Das tapfere Schneiderlein“ damals wie heute ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits brachte mich das Schneiderlein immer wieder zum Schmunzeln und Staunen angesichts seiner Bauernschläue und wiederholten Triumphe und mir gefiel die Botschaft, dass Verstand und Cleverness der bloßen Muskelstärke, tumben Protzerei und Gewalt immer überlegen sein werden. Andererseits grenzte mir das Verhalten des Schneiderleins zu oft an eine Hinterlistigkeit, die in mir fast Mitleid mit den Gegenspielern weckte, und der zuvor arme, alleinlebende Schneider wurde mir nach seinem erfolgreichen Hieb auf die Fliegen zu übermütig. Ja, gelegentlich fand ich sein Gebaren nicht nur leichtsinnig, sondern zum Teil recht arrogant. Und da Hochmut bekanntlich vor dem Fall kommt, rechnete ich stets damit, dass unser Schneiderlein den Preis für seine Tücke und Überheblichkeit noch zahlen würde. Davon war ich so überzeugt, dass ich jedes Mal auf diese bittere Lektion wartete, wenn ich das Märchen nach langer Zeit aufs Neue hörte oder las. Wie ihr aber wisst, musste das Schneiderlein niemals diese Erfahrung machen und konnte sich unbesorgt an den Freuden des königlichen Lebens laben. In Anbetracht seiner früheren Armut und Einsamkeit sei ihm dieses üppige und prunkvolle Dasein gegönnt.
Diese Gewitztheit des Schneiderleins hat Künstler Anton Lomaev in seinen Illustrationen perfekt eingefangen. Das Schneiderlein kommt in jeder noch so brenzligen Situation als fröhlicher, sorgenfreier Lebemann daher, der sein Haupt weit nach oben gereckt hält und dessen Mund immer ein verschmitztes Grinsen umspielt. Diese Unbeschwertheit trüben ihm weder streitsüchtige Riesen noch wütende Waldtiere oder das Heer an Fliegen, das sich von seiner Errungenschaft nicht einschüchtern lässt und ihm Seite für Seite folgt. Und während das Schneiderlein so sorglos umherreist, offenbart sich uns Lesern eine buchstäblich märchenhafte Welt: Anton Lomaev hat das Schneiderlein und uns in ein Reich versetzt, indem magische Geschöpfe, Waldtiere und Menschen völlig selbstverständlich im Einklang miteinander leben. Immer wieder begegnen wir Drachen, die gerade ein Nickerchen machen oder den Nachwuchs ausbrüten, entdecken Einhörner, die frei durch die Landschaft stolzieren, und können aus der Ferne Hasen, Bären und Wildschweine beobachten, die sich im grün-braunen Dickicht des Waldes verbergen. Wie gerne wäre ich aufgebrochen, um durch diese malerische Landschaft zu wandern!
Doch nicht nur die eigentliche Geschichte hat Anton Lomaev reich illustriert. Bereits das Vorsatzpapier ist ein regelrechtes Kunstwerk! Gehalten in Sepiatönen muten die Zeichnungen des Vorsatzpapiers historisch an und bilden das kunterbunte Treiben im Königreich ab. Drachen, Fliegen, Schweine und Menschen kämpfen, arbeiten, spielen, feiern und leben hier Seite an Seite. So erzählt das Vorsatzpapier eine Vielzahl ganz eigener Geschichten und egal, wie oft man es sich ansieht, entdeckt man doch immer wieder ein neues Detail, eine neue Figur, eine neue Szene. Wahre Buchkunst!
Fazit:
Anton Lomaev hat das Grimmsche Märchen vom tapferen Schneiderlein nicht nur in neue, farbenfrohe Gewänder gehüllt, sondern regelrecht erweitert und mit großflächigen, detailreichen Illustrationen eine Welt erschaffen, in der noch unzählige weitere Geschichten verborgen liegen. Eine zauberhafte Entdeckungsreise für kleine und große Weltenwanderer.
Liebe Kathrin,
die Grimmschen Märchen begleiten mich, wie viele, von klein auf durchs Leben. Wobei ich schon als Kind eher einen Hang zu Kunstmärchen hatten und diese traurigen Märchen von Andersen oder Wilde lieber mochte, als die Grimmschen Hausmärchen. Aus den Hausmärchen mochte ich auch eher die „dunkleren“ wie „Das blaue Licht“ oder „König Drosselbart“.
„Das tapfere Schneiderlein“ gehört so gar nicht zu meinen Märchen. Ich kenne es zwar flüchtig, aber es sprach mich weder als Kind noch als Erwachsene an. Möglicherweise liegt es daran, dass es ähnlich ist wie ein Schurkenroman oder Abenteuerroman. Beides lese ich ja auch nicht gerne. Ich mag keine Überheblichkeit, Dummheit oder Tricksereien. Keine Ahnung warum. Das halte ich beim Lesen nicht gut aus. 🙂
Ich finde es wie immer sehr schön, mit wieviel Liebe und Lust Du diese Beiträge zu den Märchen schreibst! Macht wirklich Freude, sie zu lesen!
Herzliche Grüße,
Mina
Liebe Mina,
danke für deine lieben Zeilen! Ich freue mich, dass dir die Märchen-Beiträge gefallen haben. Mir selbst hat es auch richtig viel Spaß bereitet, Märchen einmal nicht nur für mich zu lesen, sondern mich anschließend noch für den Blog mit ihnen auseinanderzusetzen – das war für mich ein bisschen mit einem Neu-Entdecken der vertrauten Geschichten verbunden.
Und wie ja auch du betonst, gibt es eine so große Bandbreite an Märchen. Mir ist das zwar seit Jahren bewusst, aber in den letzten Wochen bekam ich immer wieder das Gefühl, dass diese Vielfalt häufig in Vergessenheit gerät. „Das blaue Licht“ ist mir dadurch auch noch unbekannt – nach deiner Empfehlung muss ich das unbedingt ändern.
Meine Mutter hatte jetzt an Weihnachten ihre alten Märchesammlungen von Hauff und Andersen hervorgeholt und mir mitgegeben, sodass ich in den nächsten Monaten wohl wieder regelmäßiger Märchen lesen werde. Darauf freue ich mich schon jetzt.
Liebe Grüße
Kathrin