Auf einer kleinen Farm am Rande eines kalabrischen Dorfes lebt Claudio Bianchi ein ruhiges, abgeschiedenes, ja, fast schon isoliertes Leben. Technik und Moderne haben in sein bescheidenes Heim nie Einzug gehalten und seine Freizeit verbringt Claudio mit dem Schreiben von Gedichten, die er niemandem zeigt. Bewusst suchte er einst die Einsamkeit auf dem süditalienischen Hügel, auf dem die Farm errichtet wurde. Gesellschaft leisten ihm seine drei Katzen, drei Kühe und der alte Ziegenbock Cherubino. Die Dorfbewohner und ihr Leben interessieren Claudio indes ebenso wenig wie er sie und der Kontakt beschränkt sich auf weniger als eine Hand voll Leute.

„The universe and Claudio Bianchi had agreed long ago to leave one another alone, and he was grateful, knowing very well how rare such a bargain is, and how rarely kept. And if he had any complaints, he made sure that neither the universe nor he himself ever knew of them.” (S. 26)

So lebt Claudio Bianchi einen schlichten, unbeschwerten Alltag, ohne sonderlichen Luxus, aber auch ohne sonderliche Nöte oder Ärgernisse … bis eines Morgens eine Einhornstute in seinem Garten steht. Täglich taucht die Stute nun auf der Farm auf, erkundet das Gelände und scheint sich dabei nicht an dem Staunen und der Ehrfucht von Claudio und Ziegenbock Cherubino zu stören. Schließlich erfährt Claudio den Grund für diese geheimnisvollen Besuche: Die Einhornstute ist schwanger und Claudios Farm bietet ihr die Abgeschiedenheit und den Schutz, um ihr Fohlen zur Welt zu bringen.

Die Tage auf Claudio Bianchis Farm zu verbringen, hat mich als Leserin auf eine leise, zunächst unbemerkt gebliebene Weise entrückt – während in dem kalabrischen Dorf genau wie bei uns das 21. Jahrhundert mit all seinen Fortschritten, Erleichterungen, aber auch seinen Verrücktheiten und seiner Hektik Einzug gehalten hat, scheint bei Claudio die Zeit fast stehen geblieben zu sein. Das entschleunigt auch uns Lesende, lenkt den Blick auf das Einfache, Unbeschwerte, Stille und Schöne. Schlicht und zugleich poetisch kommt das Geschilderte daher, umso mehr in der Anwesenheit des Einhorns, das so nah und fern, so real und traumhaft zugleich erscheint.

Doch in Zeiten von Internet, Satellitenaufnahmen und Drohnen bleibt eine junge Einhornfamilie selbst in der Abgeschiedenheit von Claudio Bianchis Farm nicht unentdeckt und der abgelegene, idyllische Ort wird zum Hotspot für Journalisten, Schaulustige und Tierschützer. Plötzlich befinde ich mich wieder mittendrin in „unserer“ Welt, in unserem Alltag, in dem alles dokumentiert wird, in dem jeder Anteil an allem haben will, ohne Rücksicht auf die Betroffenen, in dem jeder meint, im Recht zu sein und dem vermeintlich einzig wahren Zweck zu dienen. Plötzlich möchte ich wie Claudio einfach die Tür hinter mir zuschlagen und all das Laute, Grelle, Bunte, Viele aussperren von diesem Ort, an dem das Leise, Kleine und Einfache so voller Zauber und Wunder steckt. Märchenhaft, geheimnisvoll und magisch ist diese Geschichte nun nicht mehr. Stattdessen ist sie direkt und real. Das wirkt ernüchternd und entzaubernd, zeigt, wie wenig ein Einhorn in diese Welt passt. Und doch: Gerade deshalb wirken Einhörner in diesem Moment nicht wie der Fantasie entsprungene Fabelwesen, sondern greifbar, realistisch – wie eine vom Aussterben bedrohte Tierart, die der Mensch nur selten zu Gesicht bekommt und der er am besten hilft, indem er sie einfach leben lässt, indem Tier und Mensch sich wie Claudio und das Universum gegenseitig einfach in Ruhe lassen.

All das wäre schon Stoff genug für einen wundervollen Roman. Doch Peter S. Beagle belässt es dabei nicht. Ganz nebenbei erzählt er uns auch eine Geschichte von Verlust und Familie, vom Erinnern und Loslassen. Obendrein packt er noch eine zwar schnell offensichtlich werdende, aber niemals aufdringlich wirkende Liebesgeschichte sowie eine Bedrohung durch die Mafia. Zugegeben, das klingt verrückt und irgendwie too much. Tatsächlich funktioniert all das zusammen aber erstaunlich gut, denn Peter S. Beagle hat es geschafft, diese so unterschiedlichen Themen ganz natürlich miteinander zu verweben und glaubhaft zu erzählen.

Während des gesamten Romans gelingt es Peter S. Beagle zudem, mit wenigen Worten viel auszudrücken. Mit Informationen, Adjektiven und Erläuterungen wird in dem nur 174 Seiten schmalen Buch sparsam umgegangen. Ausgesprochen wird nur, was in diesem Moment für die Handlung notwendig ist. Emotionen, Ängste, Sehnsüchte, Zwischenmenschliches – all die Dinge, die sich für gewöhnlich schwer mit Worten beschreiben lassen, verrät uns Peter S. Beagle zwischen den Zeilen. Was wir zum Verstehen der Charaktere wissen müssen, erfahren wir durch Blicke, Berührungen, Zögern, Ungesagtes und kleine Schritte. Schon lange habe ich kein Buch mehr gelesen, welches seine Geschichte auf so subtile, unplakative Weise erzählt, welches seine Leser abholt und seine Welt von ihnen frei erkunden lässt, statt ihnen diese in einem starren Rahmen ohne imaginären, interpretatorischen Freiraum zur Schau zu stellen. Ein sehr wohltuendes Lesen.

Fazit:

Mit „In Calabria“ hat Peter S. Beagle nicht einfach eine weitere Geschichte über Einhörner vorgelegt, sondern eine nachhallende Geschichte über das Menschsein, über unsere Gesellschaft, über das Lieben und Scheitern, über Verantwortung und Respekt gegenüber uns selbst und der Welt um uns herum.

Peter S. Beagle: „In Calabria“, Tachyon Publications 2017, ISBN: 978-1-61696-248-7