Fast jeder kennt wohl das berühmte Tagebuch der Anne Frank. Jeder, der es gelesen hat, weiß, dass Anne gerne Geschichten schrieb und davon träumte, später einmal Journalistin und Schriftstellerin zu werden. Die Geschichten, die sie schrieb, sind den meisten jedoch unbekannt. In „Tales from the Secret Annexe“ wurden nun im vergangenen Jahr Annes Geschichten in einem Band zusammengefasst und veröffentlicht. Das Buch untergliedert sich in drei Bereich:

  1. Persönliche Erinnerungen, Tagträume und Essays
  2. Fabeln und Kurzgeschichten
  3. Die fertigen Teile des Romans „Cady´s Life“

Liest man sich Annes Geschichten durch, merkt man schnell, wie unterschiedlich ihr Schreibstil und Ausdruck sind, aber auch, dass sich dieser im Laufe der Jahre weiterentwickelt hat. Ihr Geschichten sind dabei keinem einzelnen Genre untergeordnet – Fantastisches findet sich ebenso wie tiefsinnige, ernste und traurige Erzählungen und Gedanken. Was dem Leser, der sich schon intensiver mit Anne und ihrem Tagebuch beschäftigt hat, sofort auffällt, sind die vielen Parallelen zur Lebenswirklichkeit der Jüdin. So finden sich beispielsweise oft schwierige Verhältnisse zu Müttern oder das Fehlen einer Mutter in den Geschichten, besonders die Kapitel aus dem Roman „Cady´s Life“ sind ein fast exaktes Spiegelbild zum Verhältnis zwischen Anne und ihrer Mutter. Dagegen haben die durchgängig weiblichen Hauptcharaktere ebenso wie Anne selbst stets eine sehr enge Beziehung zu ihren Vätern.

Ebenso spiegeln sich Annes Charaktereigenschaften oft wieder: lebenslustige Figuren, die manchmal missverstanden werden; in sich gekehrte Figuren, die ruhig sind und über das Weltgeschehen und sich selbst sinnieren. Und die männliche, junge Figur, in der das Mädchen zum ersten Mal einen Freund findet, den sie sich wie niemanden sonst anvertrauen kann – in der Realität war Peter van Pels dieser Mensch für Anne Frank.

Anne hat über das geschrieben, was ihr selbst bekannt ist, Dinge, die sie stets beschäftigten und mit denen sie selbst Erfahrungen hat. So ist auch Krieg nicht selten ein Thema. Doch Anne nutzte ihre Geschichten auch, um ihre Wertvorstellungen und Moral zu vermitteln: Großzügigkeit, Nächstenliebe, Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft und die Bereitschaft, immer zu geben, auch wenn man selber finanziell nicht unter besten Umständen lebt.

Somit sind die gesamten Erzählungen und Essays Annes eine sehr gute Ergänzung zu ihrem Tagebuch und geben einen guten Einblick in das Seelenleben der jugendlichen Jüdin aus Amsterdam.

Neben ihren Erfunden Geschichten und Gedankenaufzeichnungen finden sich in „Tales from the Secret Annexe“ aber auch eine Geschichte, die Anne von ihrem Vater Otto Frank im Hinterhaus erzählt bekam, sowie Momente aus Annes Schulzeit und Szenen aus dem Hinterhaus, wie beispielsweise Frau van Pels Zahnarztbehandlung bei Fritz Pfeffer. Es wäre jedoch besser gewesen, diese realen Ereignisse von Annes erfunden Geschichten und ihren Aufsätzen zu trennen, da sie von Thema und Erzählweise gänzlich anders sind und es so manchmal etwas verwirrend sein kann, wenn man nicht gleich weiß, ob es eine wahre Begebenheit ist oder aus Annes kreativer Feder stammt.

Fazit:

„Tales from the Secret Annexe“ ermöglicht dem Leser einen Einblick in Anne Franks Weg zur Schriftstellerin – der Traumberuf, dessen Ausübung ihr so leider vergönnt war. Neben wahren Begebenheiten aus Annes Leben finden sich Geschichten und Aufsätzen der unterschiedlichsten Genres. Es gibt Feen, Gnome, aber auch realistische Erzählungen, die auf Annes Kriegserlebnissen beruhen. Unverkennbar sind dabei stets die vielen Parallelen zu Anne und ihrer Umwelt. Die Geschichten boten für Anne Frank eine Möglichkeit, all dies zu verarbeiten, was sie beschäftigte. Dabei zeigt sich gut, wie intensiv und kritisch Anne sich selbst und ihre Welt stets reflektiert hat – eine Fähigkeit, die wohl nicht viele Mädchen in ihrem Alter in solch starker Ausprägung haben.