Die Geschichte der zwei alten Frauen ist eine alte Legende der indigenen Stämme Alaskas. Velma Wallis, selbst Angehörige des Volks der Gwich’in, hat diese schließlich als Roman verschriftlicht und auch allen Menschen außerhalb Alaskas zugänglich gemacht.
Der Legende nach wurden zwei alte Frauen in einem kaltem Hungerwinter von ihrem Stamm verstoßen, weil sie als zu schwach und hinderlich für den Rest der wandernden Gruppe angesehen wurden. Als diese Entscheidung vom Häuptling verkündet wird, erhebt niemand Protest. Aus unserer heutigen, westlich geprägten Sicht besonders entsetzlich: Selbst die Tochter und der Enkelsohn einer der beiden Frauen bleiben still und setzen sich nicht für die Verstoßenen ein – aus Angst, dass auch sie dann zurückgelassen werden. Allein, ohne den Rest der Gruppe, kann in der Natur niemand überleben, erst recht nicht in einem Winter, der sowieso schon lebensbedrohlich ist. Nur in der Gemeinschaft ist ein (Über-)Leben möglich – jede*r hat eigene Aufgaben und Talente und alle sind aufeinander angewiesen.
Doch die beiden Frauen ergeben sich nicht so einfach ihrem Schicksal. Sie erinnern sich an alles, das sie einst lernten. Sie stellen Fallen auf, jagen Tiere, stellen Kleidung her. So schaffen sie es nicht nur, diesen Winter zu überstehen, sondern das ganze kommende Jahr.
Während all dieser Zeit werden die Frauen nicht nur körperlich und mental stärker, sie setzen sich auch immer wieder neu mit der damaligen Entscheidung des Stammes auseinander. Sie erkennen, dass ihr ständiges Klagen über körperliche Beschwerden – die rückblickend nicht so schmerzvoll scheinen wie die jetzigen Anstrengungen des Überlebenskampfes – den anderen das Gefühl gaben, sie wären nur eine Last und könnten selbst nichts mehr zum (Über-)Leben des Stammes beitragen. Sie beginnen, die Sicht der anderen zu verstehen und deren Handeln zu verzeihen. Gleichzeitig werden sie sich ihrer eigenen Kräfte und ihres eigenen Könnens stärker bewusst, erkennen ihren eigenen Wert und wissen die Freundschaft der jeweils anderen Frau zunehmend zu schätzen. Ausgestoßen von ihrer Gruppe beginnen die beiden Frauen nach und nach, sich zu öffnen. Sie teilen sich ihre Ängste und ihren Kummer mit, sprechen über ihre Gefühle – etwas, das in ihrem Volk sonst nicht üblich ist und ihnen in der aktuellen Situation viel Halt gibt.
Doch auch ihr Stamm hat im Laufe des Jahres viel Zeit zur Reflektion. Der Häuptling erkennt, dass es ein Fehler war, die beiden Frauen zu verstoßen und bereut, sie zurückgelassen zu haben. Seine Intuition sagt ihm, dass die Frauen überlebt haben und so beauftragt er im Folgewinter eine Gruppe Männer, die Frauen zu suchen, mit dem Wunsch, sie wieder in den Stamm aufzunehmen – falls sie ihm verzeihen können.
„Zwei alte Frauen“ wird untertitelt als eine „Geschichte von Verrat und Tapferkeit“. Tatsächlich finde ich diesen Untertitel nur bedingt passend. Der Verrat, den die Gruppe an den beiden alten Frauen begeht, ist zwar Ausgangspunkt, aber nicht das zentrale Thema. Die Tapferkeit resultiert in erster Linie aus dem Willen, zu überleben und sich dem angedrohten Schicksal nicht einfach tatenlos zu ergeben, ist aber ebenfalls nicht das zentrale Element der Geschichte. Die Legende, wie sie Velma Wallis erzählt, ist vielmehr eine Geschichte darüber, was Notlagen bei Menschen bewirken – im Guten wie im Schlechten, beim Individuum wie innerhalb einer Gemeinschaft. Sie ist ein Spiegel vieler Gesellschaften und deren Umgang mit schwächeren oder weniger privilegierten Personen in existenzbedrohenden Situationen. „Zwei alte Frauen“ ist aber auch eine Geschichte über Vergebung, Reue, das Anerkennen eigener Fehler und der Unfehlbarkeit anderer, von Einsicht, Zusammenhalt und davon, dass jeder Mensch bedeutsam ist.
Velma Wallis erzählt diese Geschichte sehr nüchtern und sachlich und wertet nicht über die handelnden Personen. Letzteres gefällt mir sehr gut und ist wichtig, um die Entscheidungen aller verstehen zu können, keine vorschnellen Urteile zu fällen und zusammen mit den Figuren zu wachsen und neue Sichtweisen annehmen zu können.
Die nüchterne, emotionslose Erzählweise hat es mir jedoch schwer gemacht, eine wirkliche Nähe zu den Figuren aufzubauen. Die Gefühle und Gedanken der Frauen werden kaum aufgegriffen und wenn doch, dann nur oberflächlich und im Kontext negativer Emotionen wie Wut, Angst, Enttäuschung und Kummer. Auch wie die Frauen überleben und alles überstehen, wird nur sehr grob und knapp geschildert. Dadurch gleicht die Geschichte eher einem Bericht, hielt mich als Zuhörerin stets auf Distanz und blieb für mich dramaturgisch zu schwach, um mein Interesse dauerhaft hoch zu halten.
Mit diesem sachlichen, berichtenden Erzählen, das sich auf das Wesentliche konzentriert, kann ich mir „Zwei alte Frauen“ hervorragend als Oral Storytelling vorstellen. Als kurze Geschichte in kleiner Runde mündlich erzählt wird die Legende sehr gut funktionieren. Auch als Kurzgeschichte würde mir die Geschichte der alten Frauen gut gefallen. Im vorliegenden längeren Format eines Romans funktioniert dieser Stil für mich persönlich jedoch nicht. Ich liebe es, tief in Geschichten einzutauchen und mich in Figuren hineinzuversetzen, verstehen zu können, was sie fühlen und denken, was sie beschäftigt. Das gelang mir in „Zwei alte Frauen“ zu wenig und ich hätte mir deutlich mehr Tiefe, Details und Atmosphäre gewünscht. Wie hart die Jagd und der Überlebenskampf der Frauen sind, wird zwar oft, aber eher beiläufig und kurz erwähnt à la: „der Tag war anstrengender als alle bisherigen“ oder „sie konnte sich am nächsten Tag vor Schmerzen kaum bewegen“. Show, don´t tell, wäre ein guter Ratschlag gewesen. Lass mich als Leser*in/Hörer*in am Erleben der Figuren teilhaben; gib mir ein Gespür davon, wie sich alles anfühlt; hole mich gedanklich in die Welt der alten Frauen und ihres Stamms!
Sehr passend für Velma Wallis‘ Erzählstil ist Ursula Illert als Hörbuchsprecherin. Ursula Illert trägt die Legende mit einer sehr angenehmen, neutralen Sprechweise vor, die trotzdem nicht kühl oder distanziert wirkt, sondern ruhig, warm und einfühlsam.
Spannend ist außerdem das Nachwort, das mehr über den Entstehungsprozess des Buches verrät und von Velma Wallis‘ beeindruckendem Leben berichtet.
Fazit:
Velma Wallis erzählt mit „Zwei alte Frauen“ eine Legende der indigenen Völker Alaskas – eine Geschichte, die in ihren Motiven und ihren Botschaften zeitlos ist, jedoch in der Romanform deutlich mehr in die Tiefe gehen könnte.
Velma Wallis: „Zwei alte Frauen“ (Hörbuch, gelesen von Ursula Illert), aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christel Dormagen, SAGA Egmont / steinbach sprechende bücher 2017, EAN: 9788711670606, ASIN: B076X3W9YY
Oh spannend, das Buch habe ich auch als Hörbuch gehört. :) Im Prinzip war es mir auch zu nüchtern und das „show don’t tell“ sehe ich auch. Entweder gab es aber zu dem Hörbuch (je nach Quelle?) möglicherweise ein „Making-Of“ bzw. Abriss zur Entstehungsgeschichte im Epilog oder ich habe irgendwo dazu nachgelesen. Im Grunde ist es Oral Storytelling, weil Velma Wallis die Geschichte ihrer Familie wiedergegeben hat. Auch hat Velma Wallis ihren Schulabschluss nachgeholt und Englisch nicht wie eine Muttersprachlerin beherrscht, was vielleicht erklärt, warum sich das Buch nicht anfühlt als ob es jemand geschrieben hat, der oder die schon hundert Stunden Schreibwerkstatt hinter sich hat.
Das hat mich das Buch dann mit anderen Augen sehen lassen.
Hallo Steffi,
es tut mir leid, dass ich erst heute antworten kann – zu volle Kalender aktuell.
Ja, es gab beim (Hör-)Buch noch ein Nachwort über die Autorin und die Hintergründe des Buches. Das Nachwort fand ich auch super spannend und ich bin auch definitiv neugierig auf mehr von oder über Velma Wallis geworden.
Die Gründe, die du benennst, spielen defintiv eine Rolle darin, wie „Zwei alte Frauen“ geschrieben ist. Den ungekünstelten, einfachen Stil mag ich grundsätzlich auch. Und ich habe auch meine Hörerfahrung nach dem Nachwort dahingehend reflektiert und erst dann geurteilt. Deswegen auch in meiner Rezension die Anmerkung, dass ich mir die Geschichte zwar in Form des Oral Storytellings vorstellen kann oder auch als kürzeres (oder gar visuelles) Format. Aber die Kombination aus Geschichte + Schreibstil + Erzählstil + Textlänge empfand ich als nicht harmonisch. Die ersten 3 Elemente bilden an sich eine gute Einheit, aber die Länge des Textes passt imho nicht dazu. Hier hätte eine Lektorat gut kürzen können, ohne dass dies Velma Wallis‘ Stimme, die Elemente des Oral Storytellings oder die Botschaften der Geschichte verändert hätte. Wär der Text etwas kürzer, wäre für mich ein in sich stimminges und wirkungsvolles Ergebnis entstanden. Aber ich kann auch nachvollziehen, dass niemand den Rotstift ansetzen wollte, aus Sorge, eventuell doch zu sehr einzugreifen.