Ein Tag ist für Debbie Tung dann perfekt, wenn sie es sich zu Hause gemütlich kann, wenn sie ungestört malen, lesen, Filme oder Serien schauen kann. Partys, Menschenmassen, spontane Einladungen oder Besuche bedeuten Stress, versetzen in Panik und zehren an ihren Kräften. Auch Small Talk oder das Knüpfen von Kontakten fallen Debbie schwer, setzen sie unter Druck und lösen zuweilen regelrecht den Wunsch nach Flucht aus. Sie hört lieber zu oder schreibt, als selbst zu reden. In ihrem Umfeld ist Debbie damit allein und unverstanden. Für alle Welt scheint es normal oder gar erstrebenswert zu sein, etwas in großen Gruppen zu unternehmen, oberflächliche Unterhaltungen zu führen oder Spaß in einer lärmenden Umgebung zu haben. Eine stille, in sich gekehrte Person wie Debbie wirkt hier eigenartig. Kein Wunder also, dass sich Debbie nicht zugehörig fühlt, den Eindruck hat, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt.
Jahrelange versucht sie wieder und wieder, den gesellschaftlichen Ansprüchen ihres Umfelds gerecht zu werden, zu sein, wer sie nicht ist, sich anzupassen an die laute, schnelle, ereignisreiche Welt – und merkt doch jedes Mal, wie sehr sie darunter leidet. Erst als junge Erwachsene erkennt sie, dass sie keineswegs so „unnormal“ ist, wie sie glaubt. Als sie erfährt, was Introvertiertheit ist und was das für sie selbst bedeutet, gelingt es ihr, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie ist, für sich selbst einzustehen und glücklich zu sein.
In schlichten schwarz-weiß gehaltenen Panels lässt uns die britische Comickünstlerin Debbie Tung anekdotenhaft an Momenten aus ihrem Leben teilhaben, in denen sie unter der von Extrovertierten geprägten Welt leidet, in denen sie an sich selbst zweifelt, sich selbst kritisiert. Und sie zeigt uns, wie sie gelernt hat, mit ihrer Introvertiertheit zu leben, ihre stille Art wertzuschätzen. „Es ist okay, lieber zu denken als zu reden“, wird ihr bewusst. Eine wichtige Stütze auf diesem Weg war dabei auch ihr Mann Jason, der Debbie trotz seiner eigenen extrovertierten Art von Anfang so akzeptierte, wie sie ist, und die Stärken einer introvertierten Person – bspw. ihr Konzentrationsvermögen – bewundert.
In Deutschland ist Debbie Tungs autobiografischer Comic im Jugendbuchsegment des Loewe Verlags erschienen. Damit wird Heranwachsenden ein wichtiges Signal gegeben: „Es ist in Ordnung, zurückhaltend zu sein. Es ist sogar toll, denn Introvertiertheit verleiht ganz eigene Stärken.“ Als ebenfalls introvertierte Person wünschte ich, es hätte schon in meiner Jugend Bücher, Filme, Serie gegeben, die genau diese Botschaft vermitteln – und das noch dazu auf so humorvolle, leichte Art wie in „Quiet Girl“. Zwar ist die Introvertiertheit bei mir nicht so stark ausgeprägt wie bei Debbie, dennoch fand ich mich in ihren Erfahrungen sehr wieder. Ich genieße gelegentliche Großevents wie Messen oder Konzerte, brauche aber nach Reisen und Besuchen bei anderen Menschen immer einen Tag zum Rückzug in die Komfortzone. Denn auch ich kenne die leeren Akkus nach einer Serie gesellschaftlicher Events; die Wohltat eines Wochenendes auf der Couch ohne andere Menschen sehen oder hören zu müssen; die Suche nach möglichen Ausreden, um einem langen, lauten Abend in einer Runde mit losen Bekanntschaften zu entgehen; das Gefühl des Versagens, weil Netzwerken und unverfänglicher Small Talk nicht gelingt; das Tragen von Kopfhörern in der Öffentlichkeit, um nicht angesprochen zu werden und das schlechte Gewissen, das in jedem Fall auftritt, egal, ob man sich dafür entscheidet, eine Einladung anzunehmen (und erschöpft zu werden) oder ob man sich für die Selfcare zu Hause entscheidet (und dadurch andere enttäuscht).
Doch nicht nur für Introvertierte oder Jugendliche ist „Quiet Girl“ ein wunderbarer und wichtiger Comic, sondern auch für jene, die erwachsen sind, sich selbst gefunden und akzeptiert haben, und/oder die extrovertiert sind und bislang nicht verstehen konnten, dass es Menschen gibt, die nicht 24/7 Action und Gesellschaft brauchen, sondern viel Ruhe und Zeit für sich selbst benötigen – die dafür aber treue, zuverlässige Freund*innen sind, durchdacht handelt und kleine Dinge besonders wertschätzen.
Für mich ist „Quiet Girl“ damit schon jetzt eines DER Bücher des Jahres 2022 und ich wünsche Debbie Tungs Comic viele Leser*innen, um ein breiteres Verständnis und mehr Akzeptanz für jene zu schaffen, die lieber denken und zuhören als reden, die gerne für sich allein in ihren eigenen vier Wänden statt mitten im Gewusel einer Party sind.
Fazit:
„Quiet Girl“ schafft auf humorvolle Weise Bewusstsein und Verständnis für die Unterschiede zwischen intro- und extrovertierten Menschen. Wer selbst introvertiert ist, wird sich verstanden fühlen. Wer es nicht ist und nur wenige introvertierte Menschen gut kennt, erhält einen Einblick, wie sich Small Talk, Kontakteknüpfen, Menschenmassen und Tage voller Unternehmungen für Introvertierte anfühlen und an deren Kräften zerren.
Debbie Tung: „Quiet Girl. Geschichten einer Introvertierten“, aus dem Englischen übersetzt von Katharina Hartwell, Loewe Verlag 2022, ISBN: 978-3-7432-1079-0
Schön, dass es mittlerweile solche Bücher gibt. Ich wurde damals von meiner eigenen Mutter als „unnormal“ bezeichnet, wurde in der Schule übelst gemobbt und hab später auf der Uni und im Beruf immer noch versucht,“normal“ zu erscheinen. Werde nie vergessen, wie ich mich einmal gezwungen habe, auf die berühmte Nikolausfete an der Saar-Uni zu gehen. War einfach nur furchtbar für mich.
Liebe Anette,
schrecklich und schmerzhaft, wenn selbst die eigenen Eltern so abwerten. Es tut mir leid für dich, dass du diese Erfahrung machen musstest!
Ich bin dankbar, dass – auch durch die sozialen Netzwerke – inzwischen ein deutlich größeres Bewusstsein vorhanden ist, wie unterschiedlich Menschen sind, dass es introvertierte und extrovertierte Personen gibt. Bis in die 20er war mir auch nicht so sehr bewusst, woher all das rührt und dass wir uns eben nicht verbiegen / ändern müssen. Und ich bin dankbar, dass ich immer mehr Menschen kennenlerne, die ebenfalls introvertiert sind (mal mehr, mal weniger) oder zumindest verstehen und akzeptieren, dass ich immer wieder Rückzug und Isolation brauche.
Ich hoffe, auch du bist inzwischen von Menschen umgeben, für die du dich nicht zu etwas zwingen musst, mit dem du dich nicht wohlfühlst und die verstehen, warum du nicht ständig unter Menschen sein kannst.
Aber auch wenn im Privaten durchaus immer mehr Offenheit und Akzeptanz für Introvertierte entsteht: Bildung und Berufsleben haben hier noch großen Nachholbedarf. Dass in Zeugnissen oder auf Elternabenden kritisiert wird, dass sich Kinder zu wenig melden, obwohl sie das Wissen und die Kompetenzen haben, dass Kinder und Jugendliche dazu gezwungen werden, vor der gesamten Klasse zu singen, frei zu sprechen etc. oder dass ein Gros des Arbeitsalltags aus Meetings und (ungeplanten) Telefonaten besteht, ist damals wie heute unsensibel.
Viele Grüße
Kathrin
Das stimmt, da wir überhaupt keine Rücksicht genommen :-( Habe sogar den Eindruck, in den Schulen ist das schlimmer geworden, die Tochter einer Freundin von mir bekommt wesentlich schlechtere Noten wegen mangelnder „Mitarbeit“…
Grundsätzlich befürworte ich es, dass Schüler*innen aktiver zum Unterricht beitragen und nicht nur Wissen „aufsaugen“ sollen. Aber leider heißt das für viele Lehrkräfte: Vorträge, Präsentationen, Diskussionsrunden. Dabei gäbe es genug andere aktive Methoden, bspw. Projektarbeiten, bei denen jede*r die eigenen Fähigkeiten einbringen kann und dadurch nicht alle zu den gleichen Sachen gezwungen werden. Schlechte Noten zu verteilen, weil jemand von Natur aus stiller und zurückhaltender ist, ist absolut unfair und setzt Kinder und Jugendliche noch mehr unter Druck. So etwas kann sich bis ins Erwachsenenleben festsetzen und dafür sorgen, dass sich Introvertiert als „nicht gut genug“ empfinden. Ich wünschte, das würde sich ändern. Leider gibt es – meines Wissens nach – im Lehramtsstudium keine Seminare dazu, wie auf unterschiedliche Stärken und Eigenschaften eingegangen werden kann. Zwar ist immer von Differenzierung die Rede, aber das ist reduziert auf: Schüler*innen mit schnellem Lerntempo und hohem Wortschatz und Schüler*innen mit weniger ausgebautem Wortschaft und langsamerem Tempo.
Wahre Worte! Der Comic klingt toll und während ich so deine Besprechung gelesen habe, musste ich mich auch fragen: welche Formate gab es in meiner Kindheit, die Introverthiertheit als „okay“ erklärten? Wenige. Alle waren Pipi Langstrumps, starke und gerne auch mal laute Heldinnen; Superstars, die immer glänzen und Girlies, die von allen gemocht werden und immer alles richtig machen und hübsch sind. Die wenigen introvertierten Charaktere, die mir über den Weg liefen waren beispielsweise Ami aus Sailor Moon. Aber ja: es gab so wenige! Sehr traurig. Und dankenswerterweise wird das heute anders gehandhabt. Aus den zeitgenössischen Webcomics fallen mir durchaus mehrere ein, die sich des Themas annehmen, Sarah Andersen beispielsweise. Dasselbe gilt fürchte ich für den introvertierten Jungen.
Ja, früher gab es echt wenige Heldinnen. Zwar gab es durchaus ruhigere Figuren, aber die wahren nicht zwingend introvertiert, sondern durchaus gern in Gesellschaft anderer oder haben sich im Unterricht viel gemeldet.
Nach der Lektüre von „Quiet Girl“ hab ich noch etliche Comictipps zum Thema bekommen, was meinen Insta-Feed bereichert hat. Aber: Es sind immer Frauen. Introvertierte Jungs suchen daher nach wie vor sehr lang (vergeblich?) nach passenden Vorbildern und Identifikationsfiguren. Womit wir auch schnell wieder beim Thema „toxische Männlichkeit“ sind.
Schaut nach einem sehr gelungenen Comic aus. Habe mir das Buch auch bestellt und bin gespannt =)
Zeilentänzerin
Hallo Zeilentänzerin,
es ist ein wirklich gelungener Comic, der auch ideal für Comic-Neulinge ist. Ich hoffe, dich kann er auch begeistern! Lass mich hinterher gern wissen, wie dir Quiet Girl gefallen hat.
Viele Grüße
Kathrin