Für mehr als 600 Leute ist die Halle des Im Wizemann am Abend des 6. November 2021 bestuhlt. Über 600 Leute, die gekommen sind, um Benedict Wells lesen und Jacob Brass singen zu hören. Es ist zwei Jahre her, seit ich zuletzt so viele Menschen bei einem literarischen Event gesehen habe. Allerdings ist es auch zwei Jahre her, seit ich zuletzt auf einer Lesung war, die nicht im virtuellen Raum stattfand. Literatur, Kultur endlich wieder in einem solchen Rahmen, als gemeinschaftliches Ereignis, zu erleben, fühlt sich kostbar an, wie der erste Schluck Wasser nach einer langen Durststrecke.
In den folgenden zweieinhalb Stunden fällt es mir dank der Wohnzimmeratmosphäre auf der Bühne, der sympathischen, ungekünstelten Art von Benedict Wells und Jacob Brass und dem runden Programm auch leicht, all die Menschen um mich herum und das durchgehende Tragen der Maske vollständig auszublenden. Die große Halle schrumpft in der Wahrnehmung auf einen gemütlichen, kleinen Kinoklub, in dem ansonsten nur Indiefilme im OmU laufen. Perfektes Setting also, um gedanklich in Wells‘ „Hard Land“ einzutauchen, wo wir einen Sommer lang den 15-jährigen Sam begleiten. Ein Sommer der Abschiede, der ersten Male, kurz: des Erwachsenwerdens; eingebettet in die Szenerie eines Ferienjobs im amerikanischen Kleinstadtkino.
Back to the ’80s
In ungewöhnlich vielen Textpassagen liest Benedict Wells uns zurück in die ’80er – oder das, was die Popkultur und Vergangenheitsverklärung uns als eine typische Jugend in den ’80ern gerne verkauft. Es ist inhaltlich nichts, was es noch nie gegeben hätte. Aber darum geht es auch gar nicht. Es geht um das Gefühl und den Sound der Jugend und der ’80er – einer Ära, die wie kaum ein anderes Jahrzehnt unzählige Gegensätze vereint, die für Trash und Kult zugleich steht und in der unsere immer dynamischeren Fortschritte im Medien- und Technikbereich eingeläutet wurden. Die ’80er waren laut, grell, bold, experimentell – wie die Jugend. Vielleicht funktioniert das Thema „Jugend in den ’80ern“ deshalb immer wieder so gut.
Auch Benedict Wells hat eine Faszination für diese Zeit, wenngleich auch er nur wenige Jahre dieser Dekade erlebt hat. Gekleidet in extra für die Hard Land Club angeschafften Nikes, die an die Schuhe von Marty McFly erinnern sollen, sinniert er darüber, warum diese Zeit und insbesondere Jugendfilme wie „Breakfast Club“ Kultstatus erreicht haben, und erzählt, dass er die für den Schreibprozess an „Hard Land“ angelegte ’80s-Playlist noch immer gerne hört.
Den passenden Soundtrack – nicht nur für diesen Abend, sondern für den gesamten Roman – liefert Jacob Brass. Seine Setlist ist eine Mischung aus Songs seines eigenen Albums „Circletown“ und Klassikern der ’80er. In einen der Songs stimmt sogar Benedict Wells für einen kurzen Moment mit ein. Und wie im Roman „Hard Land“ findet sich auch im musikalischen Teil des Abends ein kleines Easter Egg: Für ein paar Zeilen springt Jacob Brass mit uns in die späten ’90er, indem er gekonnt den Refrain von „Kiss Me“ von Sixpence None The Richer einfließen lässt – und mir damit für die nächsten Wochen einen von zwei Ohrwürmern beschert. Den zweiten Ohrwurm liefert der Sänger mit seinem eigenen Titel „Runaway“ – ein Lied, dass auf der Bühne die Zeit stillstehen lässt und mir eine wohlige Gänsehaut bereitete. Überhaupt gehört Jacob Brass zu jenen Musiker*innen, deren Songs in der Liveperformance ein ganz neues Level an Intensität erreichen. Jacobs Musik weckt in mir ein Gefühl der Weite, Sehnsucht; perfekt für stundenlange, einsame Autofahrten entlang von Feldern.
Das Beste ist das Ungeplante
Dass Jacobs Musik so hervorragend zu Benedicts Roman passt und beide gemeinsam auf Tour gehen, erweckte anscheinend bei einigen Tourbesucher*innen den Eindruck, als wären Roman und Album ein gemeinsam entwickeltes Gesamtkonzept. Doch beide Werke entstanden unabhängig voneinander und es war dem Zufall geschuldet, dass sie so gut harmonieren – und die beiden Freunde Literatur und Musik zusammen auf die Bühnen bringen konnten.
Ein Zufall war es auch, dass Benedict Wells mit „Hard Land“ auf die – insbesondere durch „Stranger Things“ begründete – ’80s-Trendwelle aufstieg. Inspiriert wurde der 37-Jährige vor Jahren durch einen Roman des von ihm geschätzten Joey Goebel. Während eines Gesprächs mit dem Diogenes Verlag erkundigte sich Benedict, ob es etwas Neues von Joey gäbe. Ja, ein Roman namens „Heartland“ sei in Planung, so die Antwort. Benedict verstand „Hard Land“ statt „Heartland“, hatte direkt bestimmte Assoziationen im Kopf – und ärgerte sich, dass nicht er dieses Buch geschrieben hat. Als Joey Goebels Roman schließlich erschien, erkannt Benedict Wells nicht nur, dass sich der Titel anders schrieb, sondern der Roman auch inhaltlich in eine andere Richtung ging, als von ihm vermutet. Damit war klar: Er konnte das Buch, dass seit dem damaligen Verlagsgespräch in seinem Kopf rumspukte, doch noch schreiben. Von dem Trend rund um die ’80er war damals noch nichts zu ahnen. Bis „Hard Land“ bereit für eine Veröffentlichung war, sollte sich das aber ändern. Nun hatte er ein Buch über die Jugend in den ’80er, als die Popkultur diese Epoche in allen Facetten längst durchgekaut hatte. Was heute aussieht, als wäre der Autor nur auf einen Trend aufgestiegen, war also eher eine Verkettung von Umständen. Etwas, worüber Benedict Wells heute lachen kann: „Wie late to the party kann man eigentlich sein? Übrigens, hier, ich hab auch noch einen ’80s-Roman geschrieben.“
Über sich selbst lachen kann der Autor übrigens generell gut. Und so bekommen wir an diesem Abend auch noch die ein oder andere Anekdote über Missgeschicke wie die verzweifelte Suche nach den teuren Lesungs-Nikes und nerdy Gespräche zu hören. Als er später beim Lesen feststellt, dass er eine Passage vergessen hat, die für das Verständnis dieses Abschnitts wichtig ist, lässt er sich auch davon nicht aus der Fassung bringen, sondern liefert dem Publikum ein an Serien angelegtes „Was bisher geschah“.
So erlebe ich Benedict Wells an diesem Abend als einen humorvollen, leidenschaftlichen Menschen, mit dem sowohl stundenlange Gespräche führen als auch eine Nacht lang um die Häuser ziehen könnte, ohne dass es langweilig würde. Genauso fühlt sich auch das Zusammenspiel des Autors mit seinem Freund und Musiker Jacob Brass an. Beide harmonieren nicht nur auf professioneller Ebene hervorragend. Gemeinsame Stories und Witze, gegenseitige Wertschätzung und das gekonnte einander Zuwerfen der Bälle lassen ihren Auftritt wie einen lockeren Abend auf einer Wohnzimmerparty wirken. Eine Party, von der man am Ende berauscht und mit verträumt lächelnden Augen durch die kalte Nacht nach Hause läuft. Und genau das tue ich, als ich das Im Wizemann an diesem Samstag verlasse.
Klingt toll. :) Danke fürs mitnehmen
Das war es. Mir wurde an dem Abend auch bewusst, wie sehr mir Kultur durch die Pandemie fehlt. Auch wenn sich vieles inzwischen nachholen ließ, sind Ereignisse wie Lesungen oder Messen eben doch noch ein rarer Genuss.