Nach einer Dienstreise und durchzechten Nacht landet Hiroshi Nakahara versehentlich im falschen Zug. Statt nach Tokio zu seiner Familie führt ihn dieser in seinen Heimatort. Es ist Ewigkeiten her, dass Hiroshi hier gewesen ist. Also nutzt er die Gelegenheit, das Grab seiner Mutter aufzusuchen. Eingeholt von Erinnerungen und vertieft ins Gebet verliert Hiroshi das Bewusstsein. Als er später zu sich kommt, wirkt seine Umwelt verändert und schließlich erkennt er, dass er wieder 14 Jahre alt ist. Vor ihm liegt somit das letzte Jahr als (scheinbar) glückliche Familie: Einen Sommer später wird sein Vater die Familie verlassen, ohne Abschied, ohne Begründung. Die Nakaharas sollten nie wieder ein Lebenszeichen von ihm erhalten und das unbeantwortet gebliebene Warum hat Hiroshi nie losgelassen. Die Rückkehr in die Vergangenheit möchte er nun dazu nutzen, mehr über seinen Vater zu erfahren und sein Verschwinden zu verhindern. Doch bis zu dem schicksalhaften Tag ist Hiroshi vor allem eins: ein Teenager, mitsamt aller zugehörigen Probleme, Momente des Glücks und ersten Male.

Genau hier liegt auch die für mich größte Schwachstelle von „Vertraute Fremde“. Jiro Taniguchi verliert sich auf den rund 400 Seiten immer wieder zu sehr im Teenageralltag. Zwar ist interessant, wie Hiroshi mit dem Blick eines Erwachsenen seine Jugend neu erlebt und wahrnimmt, doch wird dies so sehr ausgedehnt, dass ich diesen Schilderungen schnell überdrüssig wurde. Einen Großteil der Handlung verfolgen wir, wie Hiroshi in der Schule Bestleistungen erreicht und sich das erste Mal verliebt. Dabei geraten die eigentliche Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung der familiären Schwierigkeiten zu sehr in den Hintergrund. Gerne hätte ich ein noch detaillierteres Porträt der Nakaharas erhalten, hätte Hiroshis Mutter und Vater näher kennengelernt. Auch Hiroshis Beziehung zu seiner Ehefrau und seinen Kindern kam mir zu kurz. Vereinzelt lässt Taniguchi Parallelen zwischen Hiroshi und seinem Vater aufblitzen, die er jedoch nicht weiter vertieft. Sie werden lediglich gestreift und bieten dabei doch so viel Potenzial für eine tiefere Auseinandersetzung.

Vermisst habe ich auch all das, worin der Mangaka sonst brilliert: großflächige, impressionistische Panoramen, detailreiche Kulissen, das Einfangen des stillen Zaubers des Augenblicks. „Vertraute Fremde“ wirkt insgesamt schlichter gezeichnet und stärker auf die Handlung konzentriert als beispielsweise Taniguchis „Gipfel der Götter“, „Der spazierende Mann“ oder „Ihr Name war Tomoji“.

Hinzu kommen einige Punkte, die nicht gänzlich durchdacht scheinen. Dass Hiroshi mit dem Wissen eines Erwachsenen und den Kompetenzen eines international agierenden Geschäftsmannes in seiner zweiten Schulzeit in Fächern wie Englisch glänzen kann, ist glaubhaft und nachvollziehbar. Unlogisch ist jedoch, dass er plötzlich auch in Sport ein Ass ist. Nur weil sein Geist spürt, dass der Körper eines Jugendlichen leichter und gelenkiger ist als der eines über 40-Jährigen, verfügt ein 14-jähriger Hiroshi nicht automatisch über mehr Kraft und Ausdauer.

Auch, dass die Veränderungen, die Hiroshi bei seiner Reise in die Vergangenheit hervorruft, keinerlei Auswirkungen auf die Gegenwart des erwachsenen Hiroshis haben, widerspricht den Grundsätzen der Zeitreisen. Aber vielleicht war sein zweites Erleben der Jugend am Ende gar keine Zeitreise, sondern doch nur ein sehr langer und sehr präziser Traum?

So negativ mein Urteil bis hierhin ausfällt und „Vertraute Fremde“ im Vergleich zu anderen Werken Taniguchis schwächelt, ist der Manga aber keineswegs schlecht.

Jiro Taniguchi fängt zwischendurch immer wieder gekonnt das (Er-)Leben verschiedener Generationen ein: Das beginnt bei der unterschiedlichen Wahrnehmung von Wirklichkeit, die Kinder und Erwachsene haben, und reicht über die Verantwortung gegenüber Eltern oder Kindern bis hin zur Schilderung der Nachkriegszeit und den Ängsten der damals jungen Erwachsenen.

Die größte Stärke des Mangas liegt jedoch in der Darstellung von Eltern. Als Kinder und Jugendliche betrachten wir unsere Eltern ausschließlich als Mutter und Vater, sehen sie als Menschen, die arbeiten und sich um die Familie kümmern. Dass aber auch unsere Mütter und Väter Individuen sind mit eigenen Geschichten und eigenen Träumen, entgeht der kindlichen Wahrnehmung. In „Vertraute Fremde“ greift Jiro Taniguchi genau das auf. Er erzählt von geplatzten bzw. aus den Augen verlorenen Träumen, von Selbstaufgabe. Und er stellt die provokante Frage nach dem Wert der Selbstverwirklichung: Was darf man opfern, um man selbst sein zu können und das Leben zu führen, das einen wirklich erfüllt?

Fazit:

„Vertraute Fremde“ verfolgt eine wichtige, komplexe Frage, verliert sich aber zu sehr in Nebensächlichkeiten und steht daher für mich deutlich im Schatten anderer Werke Jiro Taniguchis.

Jiro Taniguchi: „Vertraute Fremde“, aus dem Japanischen übersetzt von Claudia Peter, Carlsen Verlag 2007, ISBN: 978-3-551-77779-9