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Hinweis

Der Roman schildert psychischen Missbrauch durch Gaslighting.

„Sandbergs Liebe“ war das erste Buch, das ich in 2020 las. Doch schon nach der Lektüre im Januar wusste ich, dass ich hierin eines meiner diesjährigen Highlights gefunden hatte. Eigentlich war dieses Kleinod jedoch ein Fund von Marc, auf dessen Empfehlung hin ich den Roman im vergangenen Jahr gekauft hatte. Nun kann ich es nur machen wie Marc und sagen: Lest „Sandbergs Liebe“!

Jan Drees‘ Roman ist auf nur 190 Seiten so ungewöhnlich dicht und intensiv, wie ich es zuvor nur von den Geschichten von Ted Chiang und Joey Goebel kannte. Oftmals konnte ich nur wenige Seiten am Stück lesen, brauchte Abstand, um das Gelesene zu verarbeiten, sacken zu lassen. Doch trotz dieser kleinen Pausen hat „Sandbergs Liebe“ mich immens aufgewühlt, fassungslos, wütend und traurig gemacht. Selbst Wochen nach Beendigung des Buches ging mir das Gelesene unaufhörlich durch den Kopf, gab mich nicht frei für andere Geschichten und forderte nach kürzester Zeit ein erneutes Lesen. Damit hat Jan Drees etwas geschafft, das seit dem Start meines Blogs nur einer Handvoll Herzensbüchern vergönnt war – der Stapel ungelesener Bücher ist zu hoch, als dass ich mich regelmäßig Rereads widmen könnte.

In „Sandbergs Liebe“ erzählt Jan Drees von einer Beziehung, die so kurz wie heftig und ungesund ist. Über die Dating-App Once lernt der Literaturwissenschaftler Kristian Sandberg Kalina Mickiewicz kennen. Kalina wirkt für ihn perfekt: Zahnärztin, gebildet, attraktiv, sportlich, aufgeschlossen – und ihr Lieblingsbuch ist das gleiche wie Kristians, nämlich Haruki Murakamis „Gefährliche Geliebte“. Prompt treffen sich die zwei und verlieben sich Hals über Kopf ineinander.

Doch in nur wenigen Tagen entwickelt ihre Beziehung eine Intensität und Emotionalität, die für Außenstehende auf Anhieb alarmierend wirkt. Sie planen gemeinsame Reisen, wollen zusammenziehen, reden von Heirat und Kindern. Man möchte für sie auf die Bremse treten, sie erden, wundert sich ob der Überschwänglichkeit, die diese Beziehung in nicht mal einem Monat erreicht.

„Dabei ist Zeit immer eine Nebensache. Es geht nie um Dauer. Es geht um Intensität.“ (S. 7)

So müssen wir voller Entsetzen zusehen, wie diese Beziehung Kristian Stück für Stück zerbricht. Schnell kommen Zweifel an der scheinbar perfekten Kalina. Denn als Außenstehende*r merkt man früh, dass Kalina ihm nicht guttut. Sie zieht ihn in kürzester Zeit tief in ihre Welt hinein, stellt ihn ihrer Familie und ihren Freund*innen vor. Doch selbst entzieht sie sich allem, was Kristian ausmacht: Sie weicht Begegnungen mit seinen besten Freund*innen aus, kritisiert diese, ohne sie zu kennen, zeigt keinerlei Interesse an Kristians Arbeit oder seiner Liebe zur Literatur. Gleichzeitig lassen Kalina und ihr „Aperölchen“ trinkendes Umfeld Kristian immer wieder spüren, dass er nicht in Kalinas Welt passt: Kristian, der Geisteswissenschaftler, der sich nichts aus Statussymbolen macht, dessen wertvollster Besitz seine Bücher sind und der in einer studentisch wirkenden Wohnung lebt – dem Gegenüber Kalina, die sich mit Mitte 30 eine Eigentumswohnung in Hamburg leisten kann, kostspielige Abendessen und Partys genießt und deren Freund*innen um die Welt jetten und u.a. als Immobilienmakler im VIP-Sektor arbeiten.

Diese Umstände hätten Kalina und Kristian wohl meistern können. Doch zunehmend zeigt sich, dass Kalina ein schwer einschätzbarer Mensch ist und ihren Aussagen nur begrenzt Glauben geschenkt werden kann.

Kalinas Wortwahl wirkt affektiert, einstudiert und dadurch unpersönlich und unaufrichtig, wird nur in wenigen Momenten dadurch aufgebrochen, dass sie von Pokémon Go spricht und Kristian ihren „Pikachu“ nennt.

Ihre Ex-Freunde waren angeblich alle gewalttätig, hatten ungewöhnliche sexuelle Vorlieben, waren drogenabhängig und / oder untreu, während sie ihnen gegenüber immer aufopferungsvoll gewesen sei.

Auch macht Kalina Kristian konstant deutlich, dass sie ihre Probleme für größer und wichtiger erachtet als seine. Sie versetzt ihn wieder und wieder, erwartet aber, dass er immer für sie da ist und sich in allem nach ihr richtet. Sie unterstellt ihm Böswilligkeit, Untreue, Unzuverlässigkeit, Rücksichtslosigkeit. Sie überinterpretiert Aussagen und Nachrichten, versteht ein „Mach’s gut“ als Trennung, schildert Szenarien anders, als sie sich abgespielt haben, macht ihm Vorwürfe, zweifelt unablässig an ihm. Gleichzeitig kann sie binnen weniger Minuten von liebreizend und verständnisvoll hin zu wütend, beleidigend und hasserfüllt wechseln.

Mit jedem weiteren Tag verliert Kristian sich mehr. Er vernachlässigt die Menschen und Dinge, die ihm wichtig sind. Eigene Interessen und Meinungen hat er schon bald nicht mehr. Stattdessen übernimmt er Kalinas Meinungen, tut alles, um ihr zu gefallen, stets alles richtig zu machen – und ist dabei immer auf der Hut, um sie nicht zu erzürnen. Trotzdem liebt er sie und glaubt fest an eine gemeinsame Zukunft.

Für Außenstehende ist es leicht, das Gefährliche dieser Beziehung zu erkennen und schnell über Kalina zu urteilen. Doch ist man selbst Teil einer Beziehung, ist man – gerade zu Beginn – zu sehr in diese involviert, als dass man sie mit genügend Abstand sehen und hinterfragen könnte.

Was Kristian in der Beziehung zu Kalina zustößt, wird in der Psychologie als Gaslighting bezeichnet – ein Begriff, der auf ein Theaterstück von Patrick Hamilton zurückgeht und eine Form des psychischen Missbrauchs meint. Betroffenen Personen wird zunehmend ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit abgesprochen, sie werden verunsichert, manipuliert, ständig kritisiert, sind Unterstellungen und falschen Vorwürfen ausgesetzt, an ihren Gefühlen wird gezweifelt und Aussagen werden umgedeutet – bis sie sich selbst in Frage stellen und nicht mehr wissen, was wie wirklich passiert ist. Folgen dieses Missbrauchs können unter anderem Depressionen, PTBS oder dissoziative Störungen sein.

Jan Drees zieht uns in diesen Strudel hinein, stürzt uns gemeinsam mit Kristian Sandberg in einen Abgrund und gibt Gaslighting ein Gesicht, ohne diesen Begriff selbst auch nur einmal fallen zu lassen. Dies tut er auf eine schonungslose, prägnante Weise, die überwältigt und immens fordert. „Sandbergs Liebe“ ist damit trotz seiner geringen Seitenzahl kein Buch, dass sich schnell lesen lässt, kein Buch, zu dem man mal für einen Abend greifen sollte. Dieser Roman braucht Zeit, Aufmerksamkeit und verliert auch beim zweiten Lesen nichts an seiner Intensität.

Fazit:

Eines der wichtigsten und besten Bücher der letzten Jahre!

Jan Drees: „Sandbergs Liebe“, Secession Verlag 2019, ISBN: 978-3-906910-49-9