Der erste Monat und damit die ersten Kapitel von Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ sind Geschichte. Und ich kann Miss Booleana in ihrem ersten Fazit nur zustimmen: Zum Glück lesen wir das Buch als Gruppe! Denn Dostojewskij kann zwar gut schreiben und das Buch liest sich leicht, doch bleibt vieles ungesagt. Was die Figuren antreibt, warum sie denken und handeln, wie sie es in den jeweiligen Situationen tun, bleibt häufig unklar. Dostojewskij wirft uns schnell mitten in die Handlung, hält sich nicht mit Vorgeplänkel auf – was lobenswert ist, mir im Rückblick aber zu wenig Material gibt, um alles immer richtig einordnen zu können. Das gemeinsame Lesen hilft hier ungemein und auf Twitter findet zwischen Jana, Miss Booleana, voidpointer und mir viel Austausch und gemeinsames Grübeln statt.

Zu Beginn erfahren wir lediglich, dass unser Protagonist Rodion Romanowitsch Raskolnikow („Rodja“) verarmt ist, sein Studium abgebrochen hat und etwas Schreckliches plant. Stück für Stück lesen wir heraus, dass er vorhat, seine Pfandleiherin zu ermorden. Obwohl Raskolnikow kein gutes Gefühl bei der Sache hat und die Tat an sich verabscheut, sieht er sie als unabwendbar und einzig logischen Ausweg für seine Situation. Um sich darin zu bestätigen (und Mut zu fassen?), klammert er sich an jeden Strohhalm. Ein Gespräch in einer Kneipe, in dem zwei Männer darüber reden, was für ein schlechter Mensch die Pfandleiherin sei und dass ein Mord an ihr kein Verbrechen wäre, betrachtet Raskolnikow als Rechtfertigung für seine Absicht: Mit dem Mord tue er sozusagen allen einen Gefallen.

Während wir noch darüber grübeln, was Raskolnikow zu dieser Tat wirklich antreibt, was ihn in Armut, Lethargie und soziale Isolation trieb und ob ein Beil eine klug gewählte Mordwaffe darstellt, wird unser Protagonist von Albträumen heimgesucht, die ihm wie ein Omen scheinen. An seiner Absicht ändert das nichts. Kurz darauf steht er in der Wohnung der Pfandleiherin, wo er nicht nur sie, sondern auch ihre Schwester tötet. Der Mord selbst wird von Dostojewskij ziemlich schnell und sachlich abgehandelt. Dadurch ließ er mich relativ kalt – Raskolnikows Albtraum von einem Pferd, das zu Tode gepeitscht wird, wühlte mich deutlich mehr auf.

Raskolnikow indes verfällt direkt nach dem Mord in eine Art Delirium, zeigt sich abwechselnd panisch und gelassen und verfällt schließlich in einen mehrtägigen Fieberschlaf. Als er erwacht, ist der Mord Stadtgespräch und an Raskolnikows Bett sitzt sein ehemaliger Kommilitone Rasumichin. Wie sich herausstellt, hat Rasumichin Raskolnikow gepflegt und sich derweil mit dem halben Haus angefreundet. Warum Rasumichin solche Fürsorge zeigte, obwohl beide keine Freundschaft, sondern lediglich eine oberflächliche Bekanntschaft verband, ist fraglich.

Damit kommen wir auch zu einem der großen Kritikpunkte, die ich an „Verbrechen und Strafe“ habe: Mir bleiben zu viele Fragen offen. Dostojewskij stellt uns mitten in verschiedene Situationen, konfrontiert uns mit Straftaten und überstürzten Handlungen, ohne dafür Erklärungen zu bieten. Wirkte Raskolnikow zu Beginn des Buches auf mich eigentlich noch ganz vernünftig und rational, wird er im weiteren Verlauf des Buches immer hitzköpfiger, agiert willkürlich, ändert ohne ersichtlichen Grund seine Meinungen, stößt jeden von sich weg, nur um kurz darauf wieder höflich zu sein. Es ist schwer, (nicht nur) seine Gedanken nachzuvollziehen, sich in ihn und die anderen Figuren hineinzuversetzen. Dadurch wirkt derzeit noch vieles sehr beliebig auf mich. Dass Raskolnikow nach dem Mord in einen (Fieber-)Wahn verfällt, macht das Einfühlen nicht einfacher …

Später stellt sich noch dazu heraus, dass Raskolnikow einst einen Artikel über Verbrechen schrieb, in dem er ziemlich verstörende Ansichten vertritt. Darin unterteilt er die Menschen in zwei Gruppen, von denen er einer zuspricht, unter gewissen Umständen gegen das Gesetz verstoßen zu dürfen, während er gleichzeitig suggeriert, dass die andere Gruppe nichts Besonderes und eine Zugehörigkeit zu jener nicht erstrebenswert sei. Spätestens hier habe ich jegliche Achtung und Restsympathie für unseren Protagonisten verloren.

Doch nicht nur Raskolnikow macht mich beim Lesen wütend. Mit Ausnahme von Rasumichin sind mir nahezu alle Figuren zu blass oder zu unsympathisch. Insbesondere die Männer zeigen sich nicht von ihrer besten Seite und lassen kaum ein gutes Haar an Frauen. Frauen werden von ihnen gern in Schubladen gesteckt und es wird schnell deutlich, was sie in ihnen sehen bzw. welche „Funktion“ Frauen erfüllen sollen. Das könnte man nun durchaus als Kritik Dostojewskijs an dem Frauenbild der damaligen Zeit sehen. Allerdings äußert Dostojewskij sich als Erzähler der Geschichte auch nicht gerade respektvoll, ist eine Frau in ihren 40ern in seinen Augen doch schon alt. Überhaupt wird im Roman sehr gern über das Äußere der Frauen gesprochen.

Kurzum: „Verbrechen und Strafe“ bringt einiges mit sich, über das man sich aufregen kann und das zum Diskutieren einlädt. Das Buch ist an sich gut geschrieben, aber aufgrund der oben geschilderten Kritikpunkte fällt es mir schwer, zu verstehen, warum es für viele ein Lieblingsbuch oder zumindest als beeindruckender, wichtiger Roman betrachtet wird. Was jedoch nicht heißt, dass ich das Lesen nicht genieße, denn das tue ich in der Tat! Ich gebe aber zu, dass dies auch an dem großartigen Austausch mit meinen Mitleser*innen liegt – und an Rasumichin, der in dem ganzen Roman noch der Vernünftigste zu sein scheint. Zwar redet er wie ein Wasserfall, trifft dabei aber so manche interessante Aussage, die philosophisch anmutet. Hiervon wünsche ich mir mehr und lasse mich nun überraschen, was Dostojewskij in der zweiten Hälfte seines Romans bereithält. Vielleicht gewinnt mein Bild von Raskolnikow doch noch an Klarheit?


Fjodor M. Dostojewskij: „Verbrechen und Strafe“, aus dem Russischen übersetzt von Swetlana Geier, FISCHER TaschenBibliothek 2017, ISBN: 978-3-596-52156-2