Am 11. Februar 2017 starb Jiro Taniguchi und damit ein Ausnahme-Mangaka, ein großartiger Geschichtenerzähler und einer der besten Künstler unserer Zeit. Bis zuletzt hat er am Zeichnen festgehalten. Seine letzte Arbeit „Im Jahrtausendwald“ war als mehrbändige Reihe angelegt und für Taniguchi eines seiner wichtigsten und wohl auch persönlichsten Werke. Doch es war ihm nicht vergönnt, dieses Herzensprojekt zu beenden – lediglich der erste Band konnte gänzlich fertiggestellt werden. Diesen hat der Carlsen Verlag vor wenigen Wochen in deutscher Übersetzung vorgelegt und um Einblicke in Skizzenbücher, Hintergrundinformationen sowie Nachworte von Kollegen des talentierten Mangaka ergänzt.
Nun sitze ich hier und möchte euch von dieser letzten Geschichte Jiro Taniguchis erzählen. Aber kann man ein Werk besprechen, das nie vollendet wurde? Kann bzw. darf man sich ein Bild über eine Geschichte machen, von der lediglich der Anfang existiert? In den meisten Fällen würde ich darauf wohl mit Nein antworten. Doch wenn man mit dem Lebenswerk eines Künstlers so vertraut ist wie im vorliegenden Fall, reicht selbst ein Fragment, um einen Eindruck von der Idee und ihrer Umsetzung zu erhalten. Zudem bieten Taniguchis Verleger Motoyuki Oda und seine Übersetzerin in Frankreich, Corinne Quentin, detaillierte Einblicke in die Ursprünge und die angedachte Entwicklung der Geschichte um den Jahrtausendwald.
Bei dem Jahrtausendwald handelt es sich um ein Waldstück, das nach einem starken Erdbeben in der Bergregion San’in entstand. Diese pittoreske Region soll nun das neue Zuhause für den zehnjährigen Wataru sein. Nach der Trennung der Eltern und einer schlimmen Erkrankung der Mutter beschließt Watarus Familie, dass der Junge zu seinen Großeltern in das beschauliche Dorf Kaminobe ziehen soll. Dort erwartet ihn ein extremer Kontrast zu seinem bisherigen Alltag im lebendigen, vielseitigen Tokyo. Doch dieser Gegensatz zwischen der pulsierenden Metropole und dem ruhigen Dorf, in dem die Zeit viel gemächlicher zu vergehen scheint, ist für Wataru kein Problem. Es scheint ihm fast gleichgültig zu sein, sind seine Sorgen um die Mutter und der Schmerz durch die Scheidung der Eltern doch viel größer als Stadt-Land-Differenzen.
Still und in sich gekehrt geht Wataru durch die Welt – jedoch nicht, ohne für die Geheimnisse und die Schönheit des Waldes offen zu sein. Als ihn die Kinder des Dorfes herausfordern, öffnet sich dem Jungen eine ganz neue Welt. Wataru vernimmt die Stimme des „Großen Baumes“. Dieser heißt den Neuankömmling im Namen des ganzen Waldes und seiner Bewohner willkommen und macht Wataru zu ihrem Freund, ja, man kann sogar sagen: zu einem von ihnen. Und während unser junger Protagonist noch darüber grübelt, ob er die Stimmen der Pflanzen und Tiere tatsächlich hört oder sich diese nur einbildet, endet auch schon unsere gemeinsame Zeit im Jahrtausendwald. Doch die Wesen des Waldes wachen schützend über Wataru – ein beruhigender Gedanke, der über den viel zu frühen Abschied hinwegtröstet.
Wie wir im Anhang des Buches erfahren, schwebte Jiro Taniguchi eine Geschichte vor, die uns Menschen ermahnt, in respektvoller Harmonie mit der Natur zu leben, und die uns die verheerenden Folgen eines zunehmend industrialisierten Lebens bewusst macht. Wie sich der Mangaka dies vorstellte, wird uns glücklicherweise verraten und so ist schnell klar: Hätte Jiro Taniguchi die Reihe vollenden können, sie wäre großartig geworden!
„Eine Landschaft hat Gefühle. Ich möchte sie nicht als bloßen Hintergrund zeichnen, sondern sie erzählen lassen wie eine Figur.“ (Jiro Taniguchi, zitiert von Motoyuki Oda, S. 75)
In „Im Jahrtausendwald“ zeigt Jiro Taniguchi seine uns vertrauten Stärken: eine Geschichte, die nur weniger Worte bedarf; fein ausgearbeitete Figuren, deren Gedanken und Emotionen ich schon nach einem Augenblick mitempfinde und nicht zuletzt Landschaften, in denen ich mich schier endlos verlieren kann. In jedem Bild lässt sich das Leben, das sich versteckt zwischen den Bergen abspielt, erahnen und angesichts der imposanten Weite des Waldes und der Anmut seiner Tiere kann man nicht anders, als tiefen Respekt zu empfinden – vor dem Künstler ebenso wie vor der Natur.
Das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur war Taniguchi stets ein wichtiges Anliegen und ein Thema, das sich in unterschiedlichster Form in vielen seiner Werke findet. In „Im Jahrtausendwald“ sollte dies noch zentraler aufgegriffen werden. Dabei ist das Werk auch ein sehr persönliches: Die Handlung ist in Taniguchis eigener Heimatregion angesiedelt.
Doch nicht nur inhaltlich sollte „Im Jahrtausendwald“ für Jiro Taniguchi ein Herzensprojekt werden, sondern auch auf künstlerischer Ebene. Die Reihe sollte die Stärken der japanischen Mangakunst mit denen der europäischen, insbesondere der frankobelgischen, Comics vereinen. Vollfarbig und als Hardcover im Querformat ist der erste und einzige Band der Reihe zu einem besonderen Schmuckstück für jedes Manga-Regal geworden.
Die Schilderungen von Verleger Motoyuki Oda und Übersetzerin Corinne Quentin zur Entstehungsgeschichte und zu den Plänen Taniguchis habe ich nicht nur als informativ, sondern auch als bereichernde Ergänzung empfunden. Auch die Nachworte von Wegbegleitern des Mangaka, der hier in Europa mehr verehrt wurde als in seiner Heimat Japan, habe ich sehr gerne – und zutiefst berührt – gelesen. Sie sind nicht nur eine Ehrerweisung, sondern zeigen uns Taniguchi als Künstler und als Menschen.
Fazit:
Die Kombination aus Jiro Taniguchis rundum gelungenen, letzten Manga und den ergänzenden Einblicken seiner Kollegen machen „Im Jahrtausendwald“ zu einem würdigen Abschluss eines beeindruckenden, vielseitigen Gesamtwerkes und zu einer wundervollen Reverenz. Doch sie zeigt auch, welche Lücke dieser Mensch hinterlassen hat. Wer noch nie zu einem Manga von Taniguchi gegriffen hat, sollte dies endlich nachholen.
Jiro Taniguchi: „Im Jahrtausendwald“, aus dem Japanischen übersetzt von Miyuki Tsuji sowie aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Pröfrock, Carlsen 2018, ISBN: 978-3-551-72810-4
Seufz. Taniguchi ist einer der Verluste der letzten Jahre, der mich sicherlich ähnlich schwer getroffen hat wie dich. Umso mehr danke ich dir für den Artikel, denn ich hatte nicht auf dem Schirm, dass es ein begonnenes, letztes Werk gibt und schon gar nicht, dass das in Deutschland erschien. Umso schöner finde ich es, dass Carlsen (wie auch ein, zwei andere Verlage) so Taniguchi-treu sind und soviel von ihm auf den deutschen Markt gebracht haben. Und die Themen der Natur inkl. Verlust und Einklang sind wirklich stark und ich bin mir sicher, dass Taniguchi die großartig vereint hat.
Ich habe das Gefühl, die letzten Jahre sind die Verlage umso eifriger dran, Taniguchis Gesamtwerk auf den deutschen Markt zu bringen. Mich tröstet es ein wenig, zu wissen, dass ich noch viel von ihm zu lesen habe. Bisher habe ich leider auch noch nichts vergleichbares gefunden – jedenfalls nicht im Manga- oder Comic-Bereich (bei Animes gibt es da zum Glück genug Titel, die optisch und inhaltlich ähnlich angehaucht sind wie Taniguchis Werke). Falls du also Tipps hast, immer her damit! :D
Ha! Gute Frage … tatsächlich kenne ich niemanden, der so erzählt hat wie Taniguchi. Bei der Mangareihe „Chiisakobee“ (die ich immer noch nicht gelesen habe), beschleicht mich ja so das Gefühl, dass es sowas wie ein moderner Taniguchi sein könnte. Aber jemand der bodenständig und gleichzeitig bewegend Geschichten erzählt und einen realistischen Zeichenstil mit solcher Detailverleibtheit an den Tag legt, kenne ich tatsächlich nicht. Wenn es um realistische Zeichnungen geht und berührende Geschichten, dann ist nach wie vor Naoki Urasawa mein großer Tipp. Aber seine (sich meistens über viele Jahrzehnte erstreckenden) Geschichten sind meistens aufwühlender, weil sie Verschwörungen oder scheinbar Unmögliches thematisieren („20th Century Boys“, „Billy Bat“) oder großes Unrecht und menschliche Abgründe („Monster“). Aber die vielen Nebenhandlungen und die Zeit, die er sich für die Charaktere nimmt, sind regelrecht filmisch und lockern das deutlich auf.
Naoki Urasawa also … Aufwühlende Geschichten, menschliche Abgründe – das klingt ganz nach meinem Geschmack! Von „20th Century Boys“ habe ich tatsächlich auch schon viel Gutes gehört. Keine Ahnung also, warum ich mich noch nie zu einem seiner Mangas gegriffen habe.
„Chiisakobee“ wird ja ebenfalls sehr gepriesen, aber beim Durchblättern und Anlesen kam ich absolut nicht an Stil und Story ran. Außerdem ist es mir insgesamt zu „Hipster-mäßig“ angehaucht. XD