Bereits im Mai 2017 landete Becky Chambers’ „The Long Way to a Small Angry Planet” auf meinem Reader. Seitdem lockte es mich zwar immer wieder zum Lesen, aber irgendetwas hielt mich dann doch von der Lektüre ab. Nachdem ich schließlich Ted Chiangs geniale Kurzgeschichtensammlung „Stories of Your Life and Others“ las, befand ich mich in der Situation, dass ich einerseits mehr Science Fiction lesen wollte, andererseits aber fürchtete, nun unbewusst jedes Buch mit Chiangs Geschichten zu vergleichen und dadurch zwangsläufig enttäuscht zu werden. Also ruhte Becky Chambers Auftakt zur Wayfarer-Reihe – trotz des guten Rufes, den das Buch genoss. Sabines #WomeninSciFi-Projekt kam daher zum richtigen Zeitpunkt und motivierte mich, endlich „The Long Way to a Small Angry Planet” zu lesen. Erwartet habe ich eine gute Story, ein Buch, das ich genießen würde – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Bekommen habe ich Charaktere, die ich ins Herz geschlossen habe, ethische, gesellschaftliche und philosophische Themen und ein Buch, das ich auch euch ans Herz lege.

Dabei war mein Einstieg in „The Long Way to a Small Angry Planet” zunächst eher mittelmäßig. Auf Basis des Klappentextes ging ich davon aus, dass wir die Erlebnisse auf dem Raumschiff „Wayfarer“ vorrangig aus der Perspektive des neuen Crewmitglieds Rosemary Harper erleben werden – ausgerechnet zu Rosemary fand ich anfangs aber gar keinen Zugang, weil sie mir zu blass erschien, ich mir kein Bild von ihr als Persönlichkeit machen konnte. Stattdessen weckten jedoch die unterschiedlichen Themen, die Becky Chambers schon sehr früh im Roman aufgreift, meine Neugier: eine Spezies, deren biologisches Geschlecht sich im Laufe des Lebens wandelt; Lebewesen, die nach der Infektion mit einem Virus, überdurchschnittliche Intelligenz aufweisen und sich nicht mehr als „ich“, sondern als „wir“ definieren; die Einführung eines Personalpronomens für Individuen, deren Geschlecht unbekannt ist und immer wieder die Auseinandersetzung mit Rassismus zwischen den einzelnen Spezies im Universum.

„‘The very fact that we use the term ‘cold-blooded’ as a synonym for ‘heartless’ should tell you something about the innate bias we primates hold against reptiles […] Do not judge others species by your own social norms.’“
(Kindle E-Book-Location 380)

Ich liebe Science Fiction, die sich mit ethischen, personellen und gesellschaftlichen Fragestellungen beschäftigt und so hatte Becky Chambers mich dank ihrer Ansätze schließlich doch zu einer Art Mitglied der Wayfarer gemacht. Als ich den Rest der Crew besser kennenlernte, wollte ich das Raumschiff gar nicht mehr verlassen, auch wenn das Leben in diesem geschlossenen Raum in der Leere und Dunkelheit des Universums einen ungewohnten Blick auf Vertrautes mit sich brachte.

„Living in space was anything but quiet. Grounders never expected that. For anyone who had grown up planetside, it took some time to get used to the clicks and hums of a ship […] These were the sounds of spacer life, an underscore of vulnerability and distance. They were reminders of what a fragile thing it was to be alive. But those sounds also meant safety. An absence of sound meant that air was no longer flowing, engines no longer running, artigrav nets no longer holding your feet to the floor. Silence belonged to the vacuum outside. Silence was death.“
(Kindle E-Book-Location 59)

Im Verlauf der an sich ruhigen Handlung, die die Wayfarer zu einem weit entfernten Planeten mit nicht gerade friedfertigen Bewohnern führt, entfaltet sich der Alltag an Bord des Schiffes – mit all seinen Momenten der Freude, des Glücks, der Sorge, des Streits und schließlich auch der unterschiedlichsten Bedrohungen für die Crew. Becky Chambers gelingt dabei eine wunderbare Balance zwischen World Building, Humor, Emotionen, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und kleinen Details, die alles ein wenig mehr erden und für Normalität und Unbeschwertheit sorgen, zum Beispiel, wenn der Wayfarer-Koch und -Arzt Dr. Chef voller Leidenschaft vom Essen spricht. Die wohl größte Stärke der Autorin liegt jedoch in ihren Charakteren und deren Beziehungen zueinander. Dabei schenkt Chambers jedem Crewmitglied gleich viel Aufmerksamkeit und Tiefe; so erfährt jeder von ihnen eine Bedeutung nicht nur für die Wayfarer, sondern auch für die Geschichte und mich als Leserin. Selbst Charaktere, die anfangs distanziert oder eigenbrötlerisch erscheinen, zeigen schließlich andere, zerbrechliche Seiten. So wächst die Crew immer enger zusammen – und mir zunehmend ans Herz.

Mein ganz persönliches Highlight in „The Long Way to a Small Angry Planet” stellt jedoch die KI der Wayfarer dar: Lovelace, benannt nach der britischen Mathematikerin Ada Lovelace, die bereits im 19. Jahrhundert die Grundlagen moderner Programmierung legte und sich schon damals mit den Potenzialen künstlicher Intelligenzen beschäftigte. Lovelace, von den anderen Crewmitgliedern liebevoll Lovey genannt, hat ein eigenes Bewusstsein und Emotionen und wird weniger als Programm des Schiffes, denn vielmehr als vollwertiges Crewmitglied betrachtet.

„There were other Lovelaces out there, of course. Her core software platform could be purchased through any AI dealer. […] But they weren´t her. The Lovey that Jenks knew was uniquely molded by the Wayfarer. Her personality had been shaped by every experience she and the crew had together, every place they´d been to, every conversation they´d shared. And honestly, Jenks thought, couldn´t the same be said for organic people? Weren´t they all born running the Basic Human Starter Platform, which was shaped and changed as they went along?”
(Kindle E-Book-Location 824)

Mit Lovelace wirft Chambers Fragen auf nach Identität, danach, was einen Menschen, ein Lebewesen ausmacht und welche Rechte wir in Zukunft künstlichen Intelligenzen einräumen. Lovey ist körperlos, fest installiert ins Schiff; sie ist quasi überall, kann jedoch das Schiff nie verlassen, kann nie erfahren, was körperliche Nähe bedeutet. Theoretisch könnte sie zwar einen menschlichen Körper erhalten, allerdings wäre das nicht nur illegal, sondern würde auch ihre Existenz und ihr Leben vollständig verändern. Aber bedarf es überhaupt eines Körpers? Macht denn erst ein Körper Lovey – oder andere KIs – zu einem vollwertigen Lebewesen? Was unterscheidet eine künstliche Intelligenz, die über eine eigene Identität, einen eigenen Charakter und Emotionen, ja, über eine Art Seele, verfügt, überhaupt noch von anderen intelligenten Lebensformen?

Becky Chambers belässt es nicht bei diesen allgemeinen Fragen, sondern verbindet Loveys Existenz mit einer Liebesgeschichte – zwischen der KI und ihrem zuständigen Techniker Jenks entwickeln sich Gefühle, eine Verbundenheit und Intimität der besonderen Art. Tatsächlich ist die Beziehung von Jenks und Lovelace eine der berührendsten und authentischsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen oder gesehen habe. Dass Becky Chambers im zweiten Band der Wayfarer-Serie die künstlichen Intelligenzen stärker in den Fokus rückt, freut mich daher besonders und lässt mich der Fortsetzung umso stärker entgegenfiebern.

Fazit:

Wer von Science Fiction mehr als intergalaktische Action erwartet, wer den durch wissenschaftlichen Fortschritt geprägten Alltag kennenlernen und sich mit dem Wechselspiel von Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzen möchte, der darf sich Becky Chambers „The Long Way to a Small Angry Planet“ nicht entgehen lassen. Ein vielseitiger, inspirierender Serienauftakt!

Becky Chambers: „The Long Way to a Small Angry Planet” (Wayfarer Band 1), Hodder & Stoughton 2015, ISBN: 978-1-473-61977-7