In einem Vorort von Shanghai lebt der alte Fischer Li zusammen mit seiner kleinen Enkelin Yin. Das Leben der beiden ist schlicht, der Großvater ist vom Verlust seines Sohnes gezeichnet, Enkelin Yin muss täglich beim Fischhandel anpacken, damit beide über die Runden kommen, und wird regelmäßig von den Straßenjungs bestohlen. Doch trotz all dessen hat das Mädchen ihre Lebensfreude, ihren Optimismus und den Glauben an das Gute in der Welt nicht verloren. Als sich eines Nachts ein goldener Drache in Lis Fischernetz verfängt und dessen Fischerboot beinahe zum Kentern gebracht hätte, beharrt die gutgläubige Yin daher trotz der Ängste ihres Großvaters darauf, den verletzten Drachen mitzunehmen und gesund zu pflegen. Für Großvater Li beginnt damit eine sorgenvolle Zeit: Nicht nur fürchtet er, der Drache könnte seiner Enkelin etwas antun, nein, der Drache frisst zudem begierig sämtliche zum Verkauf gedachten Fische und beraubt die zweiköpfige Familie damit um ihre Existenzgrundlage. Doch als wäre das nicht schlimm genug, drohen bereits weitere Probleme, denn es ist das Jahr 1937 und die Japaner sind just in Shanghai einmarschiert …

Mit dem ersten Band ihrer Comic-Reihe „Yin und der Drache“ haben Szenarist Richard Marazano und Illustrator Xu Yao einen Auftakt geschaffen, der eben genau das ist: ein Auftakt für viele weitere Bände. Der keine 60 Seiten umfassende Band ist eine Einführung in Lis und Yins Welt, eine Art Vorspiel zur eigentlichen Story. Es passiert folglich recht wenig, was für den ein oder anderen enttäuschend sein mag. Doch lassen uns Richard Marazano und Xu Yao auf diese Weise erst einmal richtig in Lis und Yins Welt ankommen und wir haben Zeit, mit ihnen vertraut zu werden. Diese ausführliche Einleitung, dieses Sich-Zeit-Nehmen in unserer ansonsten eher handlungsorientierten, schnellen (Lese-)Welt wirkt dabei ungemein wohltuend und besinnt uns Leser aufs Genießen.

Wer jedoch fürchtet, dass der erste Band von „Yin und der Drache“ zu ruhig oder gar langweilig werden könnte, der irrt. Denn Richard Marazano und Xu Yao greifen in „Himmlische Kreaturen“ gleiche mehrere Handlungsfäden auf, die eine Vielzahl an spannenden Verstrickungen und zu lösenden Problemen versprechen. Dabei verweben die beiden Künstler gekonnt chinesische Mythologie mit Politik, Abenteuern und kindgerechter Unterhaltung, was „Yin und der Drache“ zu einem vielseitigen Lesegenuss für Jung und Alt macht.

Eine Stärke des Comics liegt dabei in seinen Charakteren. Allen voran seien hier natürlich Yin und ihr Großvater genannt. Yin ist eine clevere, tapfere und liebenswerte Heldin, die zwar nicht immer richtig handelt, aber immer aus guter Absicht heraus. Das macht sie zu einer sympathischen, authentischen Figur mit großem Vorbildcharakter. Ihr Großvater Li birgt indes viel Identifikationspotenzial für die erwachsene Leserschaft: Seine Trauer, seine aufopfernde Liebe für seine Enkelin – die das einzige Familienmitglied ist, das ihm noch geblieben ist – und seine bescheidene, zurückhaltende Art lassen uns leicht mit ihm fühlen und seine Ängste und Sorgen verstehen. Li und Yin ergänzen sich in ihren Unterschieden perfekt und so entfaltet sich ein berührendes, gewinnendes Porträt dieses Großvater-Enkelin-Gespanns. Doch es sind nicht nur die beiden Hauptfiguren, die überzeugen. Auch Nebencharaktere wie die Straßenjungs oder der japanische Offizier Utamaro sind trotz relativ weniger und kurzer Auftritte interessant und differenziert gestaltet und lassen bereits ahnen, dass sie in den Folgebänden noch wichtige Rollen spielen und für einige Überraschungen gut sein werden.

Auf visueller Ebene ist „Yin und der Drache“ ein liebevoll gezeichneter, atmosphärischer Comic-Schatz. Die Figuren sind mit einer solch lebendigen Mimik dargestellt, dass das Strahlen in Yins Augen uns Leser mit ihrer Freude ansteckt und wir angesichts Lis sorgenvollen Blicken ein kummervolles, erschöpftes Stöhnen zu hören vermeinen. In Verbindung mit den detailreichen Hintergründen und szenisch abgestimmten Farbgebungen entsteht so ein einladendes Gesamtkunstwerk, das mich als Leserin in Lis und Yins Welt sofort zuhause fühlen ließ. Ein optisches Highlight ist dabei natürlich der Goldene Drache, dessen Imposanz und Unberechenbarkeit faszinierend zu Papier gebracht wurden und dessen goldene Haut Illustrator Xu Yao in regelrecht magischer, fast hypnotisch wirkender Koloration erstrahlen lässt.

Wenn Richard Marazano und Xu Yao an diesen erzählerischen und visuellen Stärken festhalten, könnte „Yin und der Drache“ zu einer Lieblingscomic-Reihe avancieren.

Fazit:

Mit dem ersten Band ihrer „Yin und der Drache“-Reihe haben Richard Marazano und Xu Yao einen vielseitigen Auftakt kreiert, an dessen Ende die wesentliche Handlung zwar erst beginnt, der aber durch differenzierte Charaktere, beeindruckende Bilder und Themenbreite in seinen Bann zu ziehen vermag und viel Potenzial für die Folgebände birgt.