r

Achtung Spoiler!

Dieser Beitrag enthält Informationen zum Schicksal verschiedener Charaktere und zum Ausgang bedeutender Geschehnisse innerhalb des Romans.

Es sind einige Monate verstrichen, seit ich euch mit in Victor Hugos Welt nahm. Meine Lektüre von „Les Misérables“ musste ich leider zwischenzeitlich lange auf Eis legen, da mir schlichtweg die Konzentration fehlte und ein Buch wie dieses vom Leser ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Inzwischen ist die Konzentration zurück und so habe ich dieses Wochenende die letzten 150 Seiten des vierten Teils in einem Rutsch gelesen –  ein wunderbares Gefühl! Wie sehr hatte ich es vermisst, Zeit mit Éponine, Marius, Jean Valjean, Enjolras und Gavroche zu verbringen.

Der vierte Teil von Victor Hugos Meisterwerk hielt aber so einiges für mich als Leserin bereit: Schweifte Hugo anfangs noch sehr ab und lieferte einen eher zähen Fortgang der Handlung, passierte irgendwann so viel, dass ich mich momentan frage, wie er all das in nur 280 Seiten unterbringen konnte. Wir erleben Marius und Cosette, die endlich zueinander gefunden haben und auf unschuldige, verzückende Art ihre Verliebtheit genießen. Aber wir verbringen auch viel Zeit mit dem kleinen Gavroche, der zwar Sohn der Thénardiers und Éponines Bruder ist, aber auf der Straße lebt und mit seiner Familie nichts mehr zu tun hat.

Obwohl Gavroche täglich ums Überleben kämpfen muss und durch das Leben auf der Straße ziemlich abgebrüht ist, versprüht er doch eine Lebensfreude, Unbefangenheit und einen Optimismus, den man nur bewundern kann. Er ist nicht verbittert und nimmt sich sogar zwei kleiner Jungs an, die ihre Eltern verloren haben und nun nicht wissen, wie sie durch die Nacht kommen sollen. Ohne zu wissen, dass diese beiden Jungen seine Brüder sind, besorgt Gavroche ihnen Brot und lässt sie in seinem kleinen „Zuhause“ übernachten: das Innere des Gipsmodells des nie fertig gestellten Elefanten der Bastille. Zwischen Ratten, aber geschützt vor Regen und Polizisten  finden die Jungen hier Unterschlupf. Die Beschreibung des Elefanteninneren und der gemeinsamen Zeit der drei Kinder ist Hugo großartig gelungen: Die Schwärze, die kratzenden und quiekenden Geräusche der Ratten (zu deren Opfern bereits Gavroches Katze gehörte), das Unbehagen in dieser Umgebung, aber auch der Stolz Gavroches auf dieses außergewöhnliche Versteck und dieses kleine Reich, das nur ihm gehört – all das erwacht ohne ausschweifende Beschreibungen zwischen den Zeilen zum Leben.

Neben den romantischen Stunden und den herzerweichenden Szenen mit Gavroche ist der vierte Teil des epochalen Romans aber vor allem mit Leid gefüllt: Die Stimmung im Volk verschlimmert sich, die ABC-Jungs trommelen Unterstützer für ihren Aufstand zusammen und Jean Valjean will mit Cosette Hals über Kopf nach England auswandern, da er angesichts der drohenden Aufstände und dem aus dem Gefängnis geflohenen Thénardier um ihre Sicherheit fürchtet. Bei Cosette und Marius sorgt das entsprechend für Kummer – umso mehr, als Marius‘ einzige Hoffnung auf eine gemeinsame Ausreise nach England begraben wird.

In diesem desolaten Zustand erscheint Marius der Tod willkommener als ein Leben ohne Cosette. Obwohl er selbst keine politischen Ambitionen verfolgt und sich aus den Plänen der ABC Society herausgehalten hat – tatsächlich verbindet ihn mit den ABC-Jungs nur die Freundschaft zu Courfeyrac – begibt er sich zu den Barrikaden, die nach dem Tod von General Lamarque in der Stadt errichtet werden.

„‚[…] Revolutionaries should always be in a hurry; progress has no time to waste. We must be ready for the unexpected and not let ourselves be caught out. […]'“ (aus einer Ansprache Enjolras‘ an die ABC-Jungs, S. 735)

Sowohl Marius als auch die ABC-Jungs sind sich mehr als bewusst, dass sie für die Rebellion mit dem Leben zahlen könnten. Es dauert auch nicht lange, bis der sogenannte Juniaufstand 1832 seine ersten Opfer fordert. In den Menschen kommen die tiefsten Abgründe – aber auch Mut und Aufrichtigkeit – zum Vorschein. Enjolras hat hier besonders früh mit seinem Gewissen zu kämpfen und geht mit sich selbst ins Gericht. Dabei schimmert immer wieder Enjolras absolute Bedingungslosigkeit durch. Er steht zu seinen Prinzipien und ist bereit, alles dafür zu geben, auch wenn er damit sein Schicksal endgültig besiegeln wird. Enjolras, schon immer eine faszinierende Persönlichkeit, wird hier unbewusst und ohne Glorifizierung zu einem Helden des Romans und zu einer kleinen Legende, sodass ich mir ständig wünsche, dass Victor Hugo ihm vorher noch mehr Platz und Bedeutung in der Handlung geschenkt hätte.

Ebenso hätte ich mir mehr Szenen mit Éponine gewünscht, die neben Jean Valjean meine Lieblingsfigur in „Les Misérables“ ist. Éponine, der kein Funken des Glücks im Leben beschert gewesen ist und die für Marius ihr Leben opfert … Als sie in den Armen ihrer großen, aber unerwiderten Liebe stirbt, zerreißt es einem fast das Herz. In der Musicaladaption ist Éponines Sterbeszene die für mich eindringlichste und emotionalste Stelle. In der Romanvorlage wird diese Szene zwar recht kurz abgehandelt und es fehlt die Atmosphäre einer stillstehenden Welt, die auf der Bühne stets so gekonnt umgesetzt wird. Dennoch ist die Szene im Buch nicht weniger schmerzvoll zu verfolgen, wenn man Éponine derart ins Herz geschlossen hat wie ich. Mit ihr verlässt uns einer der wundervollsten Charaktere des Romans.

Doch zum Trauern bleibt auf den Barrikaden wenig Zeit und Marius schreibt eine kurze Nachricht an seine geliebte Cosette – es soll ein Abschiedsbrief werden. Wissend, dass Gavroche Éponines Bruder ist, beauftragt Marius Gavroche als Briefboten, um so wenigstens Éponines Bruder aus den tödlichen Schusswechseln herauszuhalten. Der Brief landet jedoch nicht bei Cosette, sondern in Jean Valjeans Händen, der sich anschließend zu den Barrikaden begibt – nicht ahnend, dass er dort auf seinen Gegenspieler Javert treffen wird …

Liest man diese letzten 100 Seiten des vierten Teils, spürt man die permanente Bedrohung, das Damoklesschwert, das über all den liebgewonnenen Charakteren hängt. Nicht nur weil ich die Geschichte kenne, sondern auch weil Hugo immer wieder die Aussichtslosigkeit vor Augen führt, verfolge ich mit Bauchschmerzen den Juniaufstand 1832, wissend, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis ich Abschied von den ABC-Jungs nehmen muss. Auf jeder einzelnen Seite bange ich aufs Neue um sie, rechne mit dem schlimmsten und atme dann erleichtert auf, wenn sie aus einer gefährlichen Auseinandersetzung wohlbehalten herausgekommen sind. Doch wie lange wird das noch so weitergehen? Das werden wir in dem fünften und letzten Teil des Romans erfahren.

– Victor Hugo: „Les Misérables“

– aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Norman Denny

– Verlag: Penguin Classics

– Publikationsjahr: 2013

– ISBN: 978-1-846-14049-5

>>zu allen Beiträgen des „LesMis“-Leselogs