Freiluftlesen_The BeesPünktlich zu meinem Urlaub hat es das Westfälische Wetter erstmals seit Juni geschafft, länger als zwei Tage am Stück mit Sonnenschein und Temperaturen über 20 Grad aufzuwarten. Darum mache ich es mir heute wieder auf dem Balkon gemütlich, um dem Freiluftlesen zu frönen. Auf dem heutigen Leseprogramm steht Laline Paulls internationaler Bestseller „The Bees“, der allein durch sein gelbgoldenes Cover Sommeratmoshphäre verbreitet. Nachdem ich mir das Buch ursprünglich direkt nach seinem Erscheinen im englischsprachigen Raum gönnen wollte, ging dort wie hier auch schon der Hype los und so musste das Buch zunächst ein Dasein auf der Warteliste fristen (Hypes sind und bleiben für mich Leselustkiller). Inzwischen ist der Trubel um das Buch abgeebbt und damit für mich der ideale Zeitpunkt gekommen, mich endlich in das Leben im Bienenstock zu stürzen. Ich bin gespannt, was ich nun mit Biene Flora 717 erleben werde, und lasse euch hier auf dem Blog in (unregelmäßigen) Abständen daran teilhaben.

Update 14.40 Uhr

„Akzeptiere. Gehorche. Diene.“

(oberstes Gebot der Bienen)

Bedingt durch eine Mittagspause und Buchungen für unseren bevorstehenden Londontrip habe ich leider erst 34 Seiten, also den Prolog plus fünf Kapitel, gelesen. Doch schon jetzt schwirrt mir der Kopf genauso wie Flora 717: Unzählige Eindrücke prasseln auf die frisch geschlüpfte Biene und mich ein und nie ergab der Ausdruck „Es geht zu wie in einem Bienenstock“ so viel Sinn wie jetzt. Als wäre das nicht genug Trubel, sorgt Flora 717 auch noch direkt selbst für weitere Irritationen: Flora 717 schlüpft eigentlich als Säuberungsbiene aus ihrer Wabe, doch zieht sie mit ihrem nicht sehr ansehnlichen Äußeren sofort die Aufmerksamkeit der Fruchtbarkeitspolizei auf sich, die sie prompt töten möchte. Doch die Priesterin Sage bewahrt Flora 717 vor diesem Schicksal, denn sie erkennt, dass Floras Merkmale nicht einem genetischen Fehler entspringen, sondern eher einer Gabe gleichen. Obwohl sie genetisch dazu nicht in der Lage sein sollte, kann Flora sprechen und sogar Gelée royale produzieren, was ihr zunächst einen Platz in der Kinderstube einbringt, wo sie die Larven versorgt. Doch Flora 717 strebt nach mehr und ist neugierig auf die Welt. In dem streng hierarchischen, bis ins Detail durchstrukturierten System mit seinen vordefinierten Rollen ist das natürlich mehr als unerwünscht.

„‚Knowledge only causes pain to your kin.'“ (S. 10)

Hinterfragen und selbstständiges Denken sind ein skandalöser Verstoß gegen die Normen des Bienenstocks. Schwester Sage bemüht sich daher darum, der kleinen Flora schnell blinden Gehorsam anzuerziehen und lullt sie mit beruhigenden Pheromonen ein, die den Wissensdurst der Jungbiene temporär betäuben. Dass Flora 717 noch für eine Menge Ärger im Bienenstock sorgen wird und ihr Leben von ihrer eigenen Spezies bedroht wird, ist vor diesem Hintergrund natürlich schon jetzt absehbar.

Update 18.45 Uhr

Über 13 Kapitel und 104 Seiten habe ich Flora 717 heute begleitet, dabei oft um sie gezittert, verfolgt, wie ihr Schicksal immer wieder durch (glückliche) Zufälle definiert wird und sie sich so zunehmend vom restlichen Bienenvolk abhebt. So mancher lebensbedrohlichen Gefahr musste sie sich stellen und nicht selten verstößt sie ungewollt und vorwiegend aus Unwissenheit gegen die Bienenetikette. Mit ihrer ungewöhnlichen, recht unbedarften Art eckt sie an – manche stören sich daran nicht weiter und wundern sich lediglich darüber, andere Artgenossen indes empören sich maßlos. Nichtsdestotrotz trägt Flora 717 durch ihre unkonventionelle Art auf ganz besondere Weise zum (Über-)Leben im Bienenstock bei und darf, nachdem sie herausragendes Engagement gezeigt hat, sogar die Königin persönlich kennenlernen.

Da diese Bienenwelt so betriebsam, ja fast schon hektisch, und zugleich komplex ist, bin ich heute beim Lesen allerdings langsamer vorangekommen, als ich erwartet hatte. Immer wieder musste ich für einen Augenblick das Buch zur Seite legen und meinen Blick einfach durch die mich umgebende Natur wandern lassen – irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich das emsige Summen aus dem Bienenstock irgendwann in meinem Kopf manifestierte. Doch vielleicht lag das nur daran, dass sich Bienen, Hummeln und Wespen von meiner Lektüre und unseren aromatisch duftenden Kumquatblüten und farbenfrohen Studentenblumen angezogen fühlten.

Abgesehen davon ist „The Bees“ nicht annähernd so leicht zu lesen, wie das samtweiche Gute-Laune-Cover verspricht. Das liegt weniger an dem doch recht düsteren Unterton der Geschichte, der zeitweise immer wieder erschreckenden Brutalität oder dem blinden Gehorsam, sondern vor allem auch an Laline Paulls Schreibstil. Paull schreibt direkt, schonungslos, unverblümt und schnell, gleichzeitig aber auch komplex und anspruchsvoll. Bei einem recht fabelähnlichen Roman über Bienen hatte ich mit einem bild- und symbolreichen, alle Sinne anregenden Stil gerechnet. Dass „The Bees“ doch deutlich nüchterner und schnörkelloser daherkommt, daran musste ich mich zunächst gewöhnen. Das ist jedoch nicht als negative Kritik gegen das Buch zu werten und an sich nichts Außergewöhnliches. In Laline Paulls Erzählweise schwingt allerdings auch immer etwas mit, das ich nicht in Worte fassen oder mit irgendwas bisher Gelesenem vergleichen kann. Nicht zuletzt dadurch ist Laline Paulls Roman so einmalig wie Protagonistin Flora 717 und daher kann ich bereits nach dem ersten Drittel behaupten, dass „The Bees“ ein Buch ist, welches sich sehr in meine Leserbiografie einbrennen wird.

Laline Paull: „The Bees“, 4th Estate 2015, ISBN: 978-0-00-755774-5