Ich bin traurig. Und wütend. Die Ereignisse der letzten Tage in Baton Rouge, Falcon Heights und Dallas beschäftigen mich unablässig. Das Schlimmste daran: Sie sind nur die jüngsten Fälle einer Serie von Gewaltakten, die ihren Ursprung in rassistischen Weltbildern haben – und leider werden sie wohl auch nicht die letzten bleiben.

“I have a dream that one day this nation will rise up, and live out the true meaning of its creed: ‘We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.’

I have a dream that one day on the red hills of Georgia the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at a table of brotherhood.

[…]

I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin, but by the content of their character.“

(Auszug aus der Rede Martin Luther Kings am 28. August 1963 in Washington, D.C.)

53 Jahre nach Martin Luther Kings Rede über seinen Traum von einem Land ohne Rassismus und Unterdrückung werden unschuldige Afroamerikaner noch immer ermodert und verletzt – ohne Grund, nur wegen ihrer Hautfarbe.

Was Angehörige der Opfer – aber auch der Täter – durchleben müssen, ist für uns Außenstehende nicht nachvollziehbar. Umso wichtiger ist, dass auch Autoren und Künstler sich dem Thema der rassistisch motivierten (Polizei-)Gewalt annehmen, es für uns aufarbeiten, aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und uns allen auf diese Weise beim Verarbeiten der tragischen Geschehnisse helfen und versuchen, begreifbar zu machen, was eigentlich kaum zu begreifen ist.

Ich lasse daher all meine aktuellen Lektüre kurz ruhen, schiebe geplante Artikel nach hinten und greife stattdessen zum Roman „How It Went Down“.

In „How It Went Down“ erzählt Autorin Kekla Magoon von einem Mord an dem schwarzen Jugendlichen Tariq, der Parallelen zum Fall Trayvon Martin aufweist. Vor allem aber erzählt sie von dem Danach – von den Schwierigkeiten, die Wahrheit ans Licht zu bringen, von dem Schmerz der Angehörigen. Für ihre literarische Auseinandersetzung mit rassistisch motivierter Gewalt in „How It Went Down“ wurde Kekla Magoon 2015 mit dem Coretta Scott King Award ausgezeichnet.

Wie Kekla Magoon das Thema aufarbeitet und was die Lektüre in mir auslöst, darüber werde ich euch in diesem Beitrag in (unregelmäßigen) Updates berichten.

 

Update #1 – 08.07.2016 17.45 Uhr

Rund ein Fünftel von „How It Went Down“ liegt hinter mir. Hinsichtlich der Handlung des Romans befinde ich mich damit zwar noch ziemlich am Anfang, doch brauche ich bereits jetzt – nach rund 60 Seiten eine Pause, wenn ich nicht sofort losweinen soll.

Es ist nicht so, dass Kekla Magoon auf die Tränendrüse drückt; nein, sie wird nicht melodramatisch, aber sie macht mich als Leserin zur Beobachterin, zu jemanden, der erlebt, wie für viele Menschen eine Welt zusammenbricht und dabei tatenlos zusehen muss. Nach den Ereignissen der letzten Tage bereitet das besondere Bauchschmerzen.

Am meisten leide ich gerade mit Tyrell, Tariqs bestem Freund. Tyrell ist einer der letzten, der von dem Mord an Tariq erfährt – und das nicht einmal durch vertraute Personen, sondern durch das Fernsehen, allein, ohne jemanden, der ihm in diesem Moment beisteht. Das zu verfolgen, schmerzt bereits, doch wirklich Tränen in die Augen treibt mir eine Szene, in der Tyrells Vater nach Hause kommt, als dieser gerade die Nachrichten verfolgt, in denen Tariqs Foto eingeblendet wird: Statt dem Sohn Trost zu spenden und für ihn da zu sein, übt Tyrells Vater nur Kritik an ihm – er glaubt den Anschuldigungen, dass Tariq Mitglied einer in der Gegend gefürchteten Gang gewesen ist, und macht Tyrell nun Vorwürfe, dass er sich mit Tariq abgegeben hat. Und er lässt seinen Sohn spüren, dass er Tyrells Trauer und Schmerz wegen des verlorenen Freundes als Schwäche empfindet. Was für eine Kälte … Sie geht an die Nieren der Leserin.

Abgesehen von dem Schmerz, der in den Szenen mit Tyrell, Tariqs Familie und dem Mädchen Jennica zu spüren ist, vermittelt Kekla Magoon ein vielschichtiges, authentisches Bild von den Verwirrungen, Missverständnissen, Gerüchten und Fehlinformationen, die mit einem so einschneidenden Erlebnis einhergehen. Magoon lässt die Geschichte aus der Sicht vieler Charaktere erleben – auf nie mehr als drei Seiten erzählen Freunde, Verwandte, Anwohner, Mitarbeiter lokaler Geschäfte und ein nach einem politischen Amt strebender Pastor ihre Sicht der Dinge. Dabei wird schnell deutlich, wie unterschiedlich die Berichte von Zeugen ausfallen können, wodurch eine Rekonstruktion dessen, was wirklich geschah, sowohl für die Polizei als auch für mich als Unbeteiligte schwer ist. Warum diese Berichte so variieren, ist unterschiedlichen Gründen geschuldet: Manche geben als Fakt weiter, was sie lediglich von anderen gehört haben oder glauben, gesehen zu haben; andere lassen wichtige Elemente aus, weil sie sich entweder nicht mehr sicher sind oder um sich oder Tariq zu schützen …

So unterschiedlich die Zeugenaussagen sind, so unterschiedlich sind auch die Reaktionen auf den Mord an Tariq. Da sind natürlich diejenigen, die trauern, die unter Schock stehen. Aber es gibt auch Stimmen, die der Meinung sind, Tariq sei selbst Schuld daran, dass man ihn erschossen hat; ja, ein Freund des Mörders befürwortet die Tat sogar, denn immerhin hätte dieser im Gegensatz zu allen anderen Weißen in der Gegend endlich den Mut gehabt, etwas gegen diese Gang und die vermeintlich bösen Schwarzen zu unternehmen. Andere dagegen sind zwar geschockt von dem Ereignis an sich, zeigen sich aber trotzdem egoistisch – Jennicas Freund ärgert sich zum Beispiel, dass die Schüsse auf Tariq einen intimen Moment zerstört haben; der Verkäufer, der Tariq kurz vor seinem Tod noch bedient hatte, hingegen will einfach nicht involviert werden, weil er grundsätzlich in seinem Leben aus jeglichem Ärger herausgehalten werden möchte.

Da all diese unterschiedlichen Meinungen und Wahrnehmungen der Ereignisse stets nach maximal drei Seiten wechseln, ist das Lesen außergewöhnlich intensiv. Eine Impression nach der anderen walzt über mich als Leserin hinweg, lässt mich nie zur Ruhe kommen und mich alles permanent in ein neues Licht setzen und hinterfragen.

Aus erzählerischer Sicht ist „How It Went Down“ bisher also grandios, aber es ist mindestens ebenso emotional aufwühlend.

„I been around a long time. I lost a lot of people I love.  […] But I ain’t ever known a sorrow like this one.“ (S. 51)

 

Update #2 – 09.07.2016 12.25 Uhr

Inzwischen bin ich in der Mitte des Buches angekommen und mache ein Gefühlschaos durch: Es macht wütend, zu sehen, wie gleichgültig manche auf den Mord an Tariq reagieren, wie sie nur jammern, dass jetzt der Alltag weggebrochen ist und alles sich nur noch um Tariq dreht; es macht sprachlos, dass manche total abgebrüht sind und nur auf ihren eigenen Vorteil aus sind; es schmerzt, Tariqs Familie und seinen besten Freund Tyrell leiden zu sehen. Auf den vergangenen Seiten nahmen mich Freunde und Verwandte mit in ihre gemeinsame Vergangenheit mit Tariq: das Mädchen, das seinen ersten Kuss von Tariq erhielt; Tyrell, der sich an die kindlichen Sleep-Overs erinnert, an ihren gemeinsamen Schwur, niemals Gangmitglieder zu werden, an ihren ersten Streit. Sie zeichnen ein vielschichtiges Portrait von Tariq: Da ist einerseits der Tariq, der so cool war, dass die bei allen gefürchtete Gang – die Kings – seit Ewigkeiten darum bemüht ist, ihn als Mitglied zu gewinnen; aber da ist auch der tiefsinnige, großherzige Tariq, der seinem besten Freund Tyrell das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein, der seiner Mutter nie Kummer bereitete und stets zuverlässig war, der seine kleine, geistig zurückgebliebene Schwester Tina verwöhnte und ihr der beste große Bruder war, den man sich vorstellen kann.

Den größten Stich ins Herz versetzen dann auch immer wieder die kurzen Passagen, in denen die kleine Tina zu Wort kommt. Ihre Zeilen zeugen davon, dass sie mehr von den Ereignissen mitbekommt, als die Erwachsenen glauben, dass sie sich auf ihre ganz eigene Weise mit Tariqs Tod auseinandersetzt und wie sich das Fehlen des großen Bruders auf ihre kindliche Lebenswirklichkeit auswirkt:

„It’s scary to go to sleep now.
[…]
But if there are monsters under the bed,
I won’t know about it.
I won’t be safe.
Tariq cast a magic spell to keep them out.
I don’t know how long it will last,
Now that he’s gone.“ (S. 117)

Den Mord an einem unschuldigen Jugendlichen aus den Augen eines Kindes wahrzunehmen, treibt Tränen in die Augen und sensibilisiert dafür, wie die Jüngsten unter uns mit so einem tragischen Einschnitt umgehen, wie sie versuchen, sich die sich veränderte Lebenswirklichkeit zu erklären. Und immer wieder wird in „How It Went Down“ dabei deutlich, dass Erwachsene Kinder in solchen Momenten unterschätzen, dass sie sie oft sogar vernachlässigen und keine adäquate Auseindersetzung über traumatische Erlebnisse mit den Jüngsten und Unerfahrensten stattfindet.

Während die kleine Tina den Tod ihres geliebten und von ihr idolisierten Bruders auf ihre ganz eigene Art verarbeitet, machen sich andere Vorwürfe: der Verkäufer, weil er seiner Ansicht nach zu einem Missverständnis beitrug, dass Tariq erst in den Fokus seines Mörders rückte; Sammy und Brick von den Kings, weil sie Tariqs Mörder nicht vor dem ersten Schuss außer Gefecht setzten; Tariqs Mutter, weil sie sich nie „genug Sorgen“ um ihren vorbildlichen, zuverlässigen Sohn machte … Natürlich sind diese Schuldzuweisungen gegen sich selbst bei den einzelnen Charakteren sinnlos und unberechtigt, aber sie sind – wie jeder, der schon einmal geliebte Menschen verloren hat – völlig normal. Die Frage „Was wäre wenn, …?“ – sie schleicht sich immer wieder in die Köpfe der Trauernden.

Außenstehende indes geben die Schuld gerne den Gangs – und ihrem Kleidungsstil: Wer sich wie ein Krimineller aufführt und anzieht, müsse sich nicht wundern, wenn er Opfer von Gewalt würde, so ihr banaler Glaube. Wie damals im Fall Trayvon Martin soll plötzlich das Tragen eines Hoodies zum Risikofaktor werden.

„I never think anything of wearing my hoodie. Throw it on, go outside. It’s what people wear, you know? You gotta have a hoodie to fit in. Let your pants hang low. Like the other guys. […] But my mom took away all my hoodies last night. Says I have to make do without them, so I won’t get shot.“ (S. 95)

 

Update #3 – 09.07.2016 14.30 Uhr

Oh, kleine Tina …

„Too many people now, when we go outside.
I know, Mommy says. But it’s just for a little while.
‚Let’s give away all the other people,‘ I say, ‚and get Tariq back.'“ (S. 161)

Update #4 – 09.07.2016 19.50 Uhr

Die letzte Seite liegt hinter mir. In der zweiten Hälfte des Romans offenbarte sich noch einmal die Tragweite eines so tragischen Ereignissed, die Auswirkungen, die ein aus Rassismus begangener Mord auf eine ganze Gesellschaft hat, auch auf jene, die Opfer und Täter nicht oder nur wenig kannten. Beziehungen zwischen Paaren, Familienmitgliedern, Freunden und Fremden verändern sich – manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten. Für manche wurde der Mord an Tariq zu einem Weckruf, das eigene Leben in neue Bahnen zu lenken; manche fanden zu einer Stärke, derer sie sich gar nicht bewusst waren. Und so schwingt in all der Tragik und dem Wissen darüber, dass die Spirale aus Gewalt nicht enden wird, trotzdem ein leichter Hoffnungsschimmer mit, dass zumindest eine Handvoll Charaktere irgendwann inneren Frieden und ein besseres Leben finden wird.

Doch neben dieser kleinen Hoffnung, dass ein paar liebgewonnene Charaktere die Chance auf eine gewaltärmere Zukunft haben, macht sich auch viel Ernüchterung und Angst breit. Je näher ich ans Ende kam, desto mehr wuchs in mir das ungute Gefühl, dass die Rachegefühle und das Streben nach Gerechtigkeit zur Selbstjustiz führen und dabei weitere Leben zerstören könnten. Ob es so weit kommt, sei hier natürlich nicht verraten – und ist eigentlich auch wenig relevant, denn dass Rassismus und Gewalt nicht einfach so aufhören, ist wohl jedem bewusst. Das Beunruhigendste dabei sind die ausgeprägten rassistischen Voreingenommenheiten seitens der Medien, der Öffentlichkeit und der Polizei: Obwohl Tariq das Mordopfer ist, lässt man seinen Mörder nach einem kurzen Verhör frei und sucht stattdessen nach Beweisen für potenzielle kriminelle Aktivitäten Tariqs; das Opfer soll zum Schuldigen gemacht werden. Was selbst uns als Erwachsene noch fassungslos macht, lässt bei Tariqs kleiner Schwester Tina ein Weltbild zusammenbrechen: Galten Polizisten nicht immer als Freund und Helfer? Doch warum helfen sie nicht, sondern machen alles nur noch schlimmer und suchen nach Möglichkeiten, ihren so fürsorglichen Bruder als bösen Menschen erscheinen zu lassen?

„In my room, the policemen move my things.
[…]
I pick up the book called Helpful People.
[…]
Page four says
Policemen solve problems and help keep you safe.
Policemen are always on your side.
I tear out page four and crumple it into a ball.“ (S. 270)

Wenn selbst ein unbedarftes kleines Kind das Vertrauen in die Gesetzeshüter verliert, dann ist das ein eindeutiges Zeichen dafür, dass in einer Gesellschaft vieles schief läuft. Was für eine traurige Welt, in der diese Kinder aufwachsen müssen …

 

Fazit:

Kekla Magoons Young Adult-Roman „How It Went Down“ ist intensiv und schmerzhaft. Er ist hart, ungeschönt, aber zugleich voller Feingefühl. Kekla Magoon gibt denjenigen eine Stimme, die nach Morden an jungen Afroamerikanern fast nie zu Wort kommen: die Gleichaltrigen und die Jüngeren, diejenigen, denen bewusst wird: „Das hätte ich sein können!“ Aber Magoon findet auch Worte für jene, in deren Perspektive wir uns nicht hineinversetzen wollen, weil wir ihr Denken verachten: der Mörder sowie die, die der Meinung sind, Tariq hätte seinen Tod quasi provoziert. Dabei gelingt es der Autorin, nicht zu urteilen und den Lesern stattdessen zu vermitteln, was Menschen zu diesen Gedanken treibt. Indem sie stets nach nur wenigen Seiten immer zwischen all diesen verschiedenen Perspektiven und Meinungen wechselt, löst sie beim Leser eine Lawine an Emotionen aus – man wird überrollt von Traurigkeit, Mitgefühl, Angst, Wut und Hass. Die Lektüre des Romans so unmittelbar nach den Ereignissen in Baton Rouge, Falcon Heights und Dallas war für mich so schmerzvoll wie zuvor nur Alice Sebolds Autobiografie „Lucky“ und insbesondere in den Szenen mit Tariqs Schwester Tina und seinem besten Freund Tyrell stiegen mir Tränen in die Augen.

Ein wichtiges, aufwühlendes Buch, das jeder von euch gelesen haben sollte!

Kekla Magoon: „How It Went Down“, Square Fish 2015, ISBN: 978-1-250-06823-1