LesMiserables_Part I Book 3

Erst 275 der insgesamt 1232 Seiten liegen hinter mir und doch weiß ich schon jetzt, dass Victor Hugos „Les Misérables“ eines der besten Bücher ist, die ich je gelesen habe und lesen werde, womöglich sogar DAS beste Buch. Ich habe viele großartige Bücher in meinem Leben gelesen, manche davon sind zu treuen Wegbegleitern geworden, auf die ich in unregelmäßigen Abständen zurückgreife. Dazu zählen „Die unendliche Geschichte“, Anne Franks Tagebuch und Lewis Carrolls Alice-Bücher. Doch „Les Misérables“ wird in dieser Reihe noch eine ganz besondere Position einnehmen. Während der Lektüre möchte ich am liebsten nach jedem zweiten Satz drei zustimmende Ausrufezeichen anbringen oder ganze Absätze mit euch teilen, weil sie so voller Weisheit und zeitloser Allgemeingültigkeit stecken. Leider wurde dieses Werk – wie so viele von Hugo oder Alexandre Dumas – in der Vergangenheit ständig in gekürzten Ausgaben herausgegeben, weil Hugos Schilderungen zu ausführlich und abschweifend werden. Obwohl ich verstehen kann, dass dieses ausladende Erzählen bei vielen Lesern die Geduld überstrapazieren würde, ist es doch genau das, was mir an Hugos Werk so gefällt. Wenn Hugo beispielsweise rund 50 Seiten lang vom Bischof von Digne erzählt, der dem Leben von Protagonist Jean Valjean zwar eine entscheidende Wendung gibt, aber deren Begegnung sich auf wenige Stunde beschränkt, dann mag das auf den ersten Blick überflüssig erscheinen, tatsächlich schafft Hugo aber auf diese Weise ein extrem detailliertes und vielschichtiges Portrait des Bischofs, sodass der Leser einerseits versteht, warum der Bischof gegenüber Valjean so offen- und großherzig ist, andererseits hebt Hugo dadurch die Relevanz der Begegnung von Valjean und dem Bischof stärker hervor – nicht zuletzt bieten die rund 50 Seiten über den Bischof dem Leser aber auch viel Gelegenheit, um buchstäblich über Gott und die Welt zu philosophieren.

Auch über das Portrait des Bischofs hinaus beweist Hugo viel Feingespür für Charaktere und Zeitgeist. Mit jedem Kapitel, das ich las, erwachte das Frankreich des 19. Jahrhunderts mehr zum Leben – jenseits von romantisch verklärten Darstellungen oder schon tausendfach aufgegriffenen Themen und Szenerien. Hugo zeigt mir als Leserin alle schönen und schmutzigen Winkel und jeden Lebensstil der Zeit – vom selbstlosen Bischof über den Häftling, der von einem Leben in Armut und juristischer Ungerechtigkeit gebeutelt ist, über die aufopfernde, aber naive Mutter bis hin zum starr auf Prinzipien reitenden Polizeiinspektor, der im Gefängnis zur Welt kam, als Sohn des Teils der Bevölkerung, den er heute als Schande und Abschaum der Gesellschaft sieht und gnadenlos bekämpft. All diese Charaktere rufen in mir wieder und wieder die gesamte Bandbreite an Emotionen hervor. Ich leide, ich gönne, ich verfluche, ich möchte wachrütteln, möchte mich einmischen.

Vor allem aber denke ich viel nach, denn Hugo greift Themen auf, die ständig aktuell sind, die zum Teil ethischer Natur sind und an das Gewissen des Lesers appellieren. So kommt Hugo auf die Todesstrafe zu sprechen …

„A scaffold, when it is erected and prepared, has indeed a profoundly disturbing effect. We may remain more or less open-minded on the subject of the death penalty, indisposed to commit ourselves, so long as we have not seen a guillotine with our own eyes. But to do so is to be so shaken that we are obliged to take our stand for or against.“ (S. 32)

… aber auch auf die wahren Bedrohungen im Leben:

“ ‚We must never fear robbers or murderers. They are dangers from outside, small dangers. It is ourselves we have to fear. Prejudice is the real robber, and vice the real murderer. Why should we be troubled by a threat to our person or our pocket? What we have to beware of is the threat to our souls.‘ “ (S. 42)

Wenn Hugo Aussagen und Urteile zu derlei Themen trifft, stimmt man ihm häufig zu, manches Mal fühlt man sich jedoch auch ein wenig ertappt. Als beispielsweise ein Mann fälschlicherweise als Jean Valjean verhaftet wird und der echte Valjean ihm helfen kann, sich damit jedoch selbst ausliefern würde, möchte ich als Leserin, die mit dem Ex-Häftling 24601 mitfühlt und bereits seine unverhältnismäßigen 19 Jahre in Haft als viel zu hohe Strafe empfand, Jean Valjean davon abhalten, sich zu stellen – im gleichen Moment jedoch beweist dieser mehr Größe, indem er bereit ist, sich für Ehrlichkeit und Gerechtigkeit zu opfern.

Neben den hervorragend ausgearbeiteten Charakteren, dem facettenreichen Gesellschaftsportrait und den zum Philosophieren und Debattieren anregenden Aussagen und Ereignissen ist „Les Misérables“ aber auch sprachlich und erzählerisch gelungen. Während der Sprachstil der englischen Ausgabe vor allem der großartigen Übersetzung durch Norman Denny geschuldet ist, die zwar modern und ungestelzt ist, gleichzeitig aber nicht lasch oder über-modernisiert, sondern zeitlos daherkommt, beweist Hugo sein rhetorisches Talent durch gekonnte Vergleiche und Bilder. In Teil 1, Buch 2, Kapitel 8 („Sea and shadow“) skizziert Hugo beispielsweise grandios das Verhältnis zwischen einer Gesellschaft und einem von ihr Verstoßenen, indem er es mit einem Mann vergleicht, der auf einem Ozean über Bord gerät: Ohne Hilfe ist er dem Untergang geweiht, seine Hilferufe gehen unter, zu schnell wird er vergessen, weil die Schiffscrew seinen Sturz entweder nicht bemerkt hat oder glaubt, dass es eh schon zu spät ist – jede Hoffnung des Schiffbrüchigen stirbt und schließlich gibt der Kampf auf. Der Tod im Meer als Gleichnis für den moralischen Tod eines Verstoßenen.

Im Fall von Jean Valjean wird der Schiffbrüchige in letzter Sekunde gerettet bzw. rettet er sich nach ein wenig Hilfestellung selbst und findet zu völlig neuer Kraft. Als er jedoch einer anderen von der Gesellschaft Verstoßenen helfen möchte, i. e. Fantine, muss er jedoch feststellen, dass es dafür zu spät ist; ihr Tod bildet zugleich den Abschluss des ersten Teils von „Les Misérables“. Doch die schönen Seiten des Lebens, die ihr verwehrt geblieben sind, werden zumindest ihrer Tochter Cosette gegönnt, die als Namensgeberin des nun bevorstehenden zweiten Teils fungiert. Und auch wenn ich mit der Handlung des Romans vertraut bin, kann ich es doch kaum erwarten, Victor Hugos Meisterwerk wieder aufzuschlagen und das Schicksal von Jean Valjean, Cosette und allen anderen weiterzuverfolgen.


Leselog zu Victor Hugos "Les Misérables"

– Victor Hugo: „Les Misérables“

– aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Norman Denny

– Verlag: Penguin Classics

– Publikationsjahr: 2013

– ISBN: 978-1-846-14049-5

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