Hoffnung„Komik ist Tragik in Spiegelschrift“, rappte einst Max Herre im Freundeskreis-Klassiker „A-N-N-A“. Dieser Satz beschreibt auch punktgenau Shalom Auslanders neusten Roman „Hoffnung: Eine Tragödie“, denn was Protagonist Solomon Kugel geschieht, ist eigentlich unglaublich traurig, zugleich aber derart absurd, dass man das Ganze nur komisch finden kann.

Vor kurzem zog Kugel mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und seiner Mutter in ein Farmhaus in dem kleinen Örtchen Stockton, dessen Einwohner voller Stolz betonen, dass sich hier nie irgendetwas historisch Bedeutsames ereignete. Kugel verspricht sich Ruhe, doch stattdessen gerät sein Leben in kurzer Zeit aus den Fugen. Und Schuld daran ist Anne Frank.

Eines Nachts hört Kugel vom Dachboden seines neuen Hauses Tapp-Geräusche. Da zu diesem Zeitpunkt ein Brandstifter in Stockton sein Unwesen treibt, fürchtet Kugel, dieser könne sich nun auf ihrem Dachboden befinden und in wenigen Minuten ihr Farmhaus in Flammen aufgehen lassen. Die Ungewissheit veranlasst Kugel, nachzusehen – insgeheim hofft er, dass die Geräusche lediglich von Mäusen stammen und er auf dem Dachboden nichts weiter vorfinden wird als Mäuseköttel:

„So ist das Leben, dachte er, als er die hölzerne Dachbodentreppe auseinanderfaltete: Eines Tages kommt man an einen Punkt, wo man hofft, Kacke zu finden. Wo die beste aller Möglichkeiten die Entdeckung, gelobt sei Christus, eines Haufens Scheiße ist.“
(Shalom Auslander: „Hoffnung: Eine Tragödie“, Berlin Verlag 2014, S.18)

Nun, einen Brandstifter entdeckt Kugel tatsächlich nicht, allerdings auch keine frischen Mäuseköttel. Stattdessen sieht er sich plötzlich einer alten Frau gegenüber, die sich ihm gegenüber als Anne Frank vorstellt. Sie sei damals gar nicht im KZ gestorben, aber da sich das Tagebuch einer lebenden Anne Frank nicht so gut verkaufen würde wie das einer toten Anne Frank, habe der Verleger ihr geraten, sich nicht zu erkennen zu geben. Seither habe sie daher auf den Dachböden anderer Menschen gelebt. Wie der Leser so glaubt auch Kugel am nächsten Morgen, dass diese Begegnung nicht real war, also geht es erneut auf den Dachboden. Doch tatsächlich: Die alte Frau ist noch immer da. Fortan muss sich Kugel also um zwei alte Frauen kümmern: die (vermeintliche?) Anne Frank und seine eigene, etwas demente Mutter, die eigentlich schon vor Monaten hätte sterben sollen, die sich für sich und ihre Verwandten vom Holocaust geprägte Schicksale ausdenkt und für die Kugel jeden Morgen Obst und Gemüse im Garten verteilt, weil in Großmutter Kugels Garten einfach nichts wächst.

In den folgenden Tagen wird Kugels Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Immer wieder fragt er sich, ob die Frau auf dem Dachboden tatsächlich Anne Frank ist und wie er sie am besten loswird, wobei er stets zu der Erkenntnis kommt, dass er sie nicht aus seinem Haus werfen kann, denn was gäbe das für Schlagzeilen: „Jude wirft Anne Frank aus dem Haus“ – ein absolutes No-Go. Dennoch ist Kugel klar, dass etwas geschehen muss. Doch während er eine Lösung für das Problem „Anne Frank“ sucht, riskiert er seinen Job und seine Ehe. Denn für Kugels Frau Bree war bereits der Einzug ihrer Schwiegermutter ein Albtraum: Zum einen ist Kugels Mutter alles andere als pflegeleicht, zum anderen wollte die kleine Familie das Zimmer vermieten, um ein dringend benötigtes, zusätzliches Einkommen zu haben. Und nun ist da auch noch eine alte Frau auf dem Dachboden, die behauptet, Anne Frank zu sein – eine weitere Person, die die Familie versorgen muss, eine weitere finanzielle Belastung. Auch kann Bree nicht verstehen, dass ihr Ehemann die alte Dame nicht einfach rauswirft und ihretwegen seinen Job und seine eigene Familie vernachlässigt. Und so muss der Leser mit ansehen, wie dem Protagonisten sein Leben zunehmend entgleitet. Bekommt man Mitleid? Ja, schon … irgendwie. Doch die Art, wie Shalom Auslander Kugels Geschichte erzählt, sorgt weniger dafür, dass der Leser sich um Kugel sorgt, als vielmehr für eine ordentliche Portion Amüsement. Soll man also lachen oder weinen ob der tragikomischen Handlung? Beides. Daher ist bei Shalom Auslanders „Hoffnung: Eine Tragödie“ jeder Leser richtig, der eine Vorliebe für pechschwarzen Humor und Antihelden hat. Denn Solomon Kugel ist auch ohne seine berühmte Mitbewohnerin ein sehr spezieller Charakter: Tagtäglich macht er sich über das Sterben Gedanken – darüber, welche Art zu sterben wohl gut wäre, was er bei einem erneuten Völkermord tun sollte und was wohl gute letzte Worte wären.

„Solomon Kugel lag im Bett und stellte sich vor, wie er bei einem Hausbrand erstickte, denn er war Optimist.“
(Shalom Auslander: „Hoffnung: Eine Tragödie“, Berlin Verlag 2014, S. 9)

Immer wieder greift Auslander diese Todesgedanken in seinem Roman auf, spinnt sie weiter, bis sie zu einer Art Insider-Witz zwischen dem Leser und Protagonist Solomon Kugel werden. Überhaupt ist Auslanders Humor unglaublich subtil, vieles baut aufeinander auf, spitzt sich zu und so wird jede Seite zu einem kleinen Hochgenuss – nur zu gerne würde ich daher das halbe Buch zitieren!

Doch natürlich ist „Hoffnung: Eine Tragödie“ durch die Figur der (vermeintlichen) Anne Frank auch recht provokant: Darf man ein Opfer des Holocaust (noch dazu ein so berühmtes) in ein derart witziges Buch integrieren? Darf man Anne Frank als alte, griesgrämige Frau darstellen? Für einige wird dies sicher ein Grund sein, das Buch nicht zu lesen, es (vorschnell) zu kritisieren. Andere werden Shalom Auslander für genau diesen „Tabubruch“ lieben

Wie schon in seinen ersten beiden Büchern (z.B. in dem autobiografischen „Eine Vorhaut klagt an“) nimmt Shalom Auslander sich selbst und seinen eigenen jüdischen Glauben auch in diesem Roman nicht zu ernst. Auslander schreibt schonungslos, direkt und natürlich mit dem für ihn typischen bitterbösen Humor, den man entweder liebt oder hasst – ich gehöre zu ersteren und zähle „Hoffnung: Eine Tragödie“ zu einem der Highlights des Lesesjahres 2014. Am Ende bleibt nur eine Frage: Warum hat Shalom Auslander bislang lediglich drei Bücher veröffentlicht?

Fazit:

Gewagt, aber grandios.