Mit „Anna Karenina“ schuf Lew Tolstoi einst einen Klassiker der Literatur. Seit Erscheinen des Romans wurde die Geschichte mehr als zehnmal verfilmt. Die jüngste Verfilmung aus dem Jahr 2012 stammt von Regisseur Joe Wright und Drehbuchautor Tom Stoppard.
Wright und Stoppard verfolgen in ihrer Adaption des Romans eine kreative Idee: Ihr „Anna Karenina“ ist wie ein großes Theaterstück aufgezogen. Mittelpunkt ist eine Bühne, auf und um welcher die gesamte Handlung des Films gespielt wird. So dient die Bühne beispielsweise als Pferderennbahn, während der russische Adel diesem vom Publikumssaal aus zusieht. Selbst der Zug kommt mitten im Saal zum Stehen. Szenenwechsel erfolgen zumeist indem ein Darsteller einen anderen Teil des Theatergebäudes betritt oder durch Einschieben neuer Kulissen, sodass der Übergang zwischen den Szenen oft fließend geschieht. Unterstützt wird der Flair einer Theaterinszenierung durch synchronisierte Bewegungen und eingefrorene Darsteller. So schwillt das synchronisierte Stempeln von Dokumenten zu einer rhythmischen Hintergrundakustik an und die russische Ballgesellschaft verharrt wie Statuen, bis Anna und Wronskij an ihnen vorbeitanzen. Diese ungewöhnliche Kombination aus Theater und Film ist interessant und bietet natürlich auch reichlich Potenzial zur Interpretation.
Gänzlich überzeugen kann der Film aber dennoch nicht. Optisch ist „Anna Karenina“ mit den opulenten Kostümen und Kulissen ein fulminantes Feuerwerk, doch mangelt es dem Film an den Facettenreichtum der literarischen Vorlage. Joe Wrights Leinwandadaption fokussiert sich auf die Dramen von Liebe und Liebschaften und ignoriert, dass Tolstois Roman mehr war als eine Liebesgeschichte, dass er ein vielschichtiges, hinterfragendes Portrait der russischen Adelsgesellschaft ist und der Autor in seinem Werk auch Grundsatzdebatten einfließen ließ. Daneben rast die Verfilmung stellenweise durch die Handlung. Gerade zu Beginn des Films gibt es in kurzer Zeit viele, kurze Szenen, sodass es für Zuschauer, die Tolstois Roman noch nicht gelesen haben, anfänglich schwierig sein könnte, Personen und Kontexte zuzuordnen.
Schauspielerisch überzeugt vor allem Jude Law, den man als Alexej Karenin kaum wiedererkennt und den zumindest ich bislang in keiner vergleichbaren Rolle gesehen habe. Bei Keira Knightley als seine Frau Anna Karenina verhält es sich da schon anders. Zwar spielt sie perfekt die melodramatische, stimmungsschwankende Frau, die Anna auch im Roman ist. Allerdings hat Keira Knightley in sehr ähnlicher Weise auch schon andere Rollen interpretiert und für mich blieb sie den ganzen Film über eben nur Keira Knightley, die eine Rolle spielt. Anna Kareninas Geliebter Graf Wronskij wird von Aaron Taylor-Johnson mit viel Arroganz und recht eindimensional verkörpert, wodurch kaum nachzuvollziehen ist, dass Kitty und Anna sich in einen solchen Mann verlieben konnten. Erst nach der Geburt von Wronskijs und Annas Tochter zeigt Aaron Taylor-Johnson auch andere Facetten seiner Figur. Alicia Vikander als Kitty und Domhnall Gleeson als Lewin hingegen verkörpern ihre Charaktere mit der gleichen Liebenswürdigkeit und Unschuld, die man auch aus Tolstois Roman kennt und gerne hätte ich mehr von ihnen gesehen. Doch leider werden die Entwicklungen zwischen Kitty und Lewin sowie zwischen dem Ehepaar Oblonskij nur an wenigen Stellen des Films aufgezeigt.
Fazit:
Joe Wrights Adaption von Lew Tolstois Klassiker ist optisch ein Genuss und auch eine gute Wahl für einen netten, entspannten Filmabend. An die Tiefe und Vielschichtigkeit der literarischen Vorlage kommt der Film aber leider nicht annähernd heran und so bleibt Wrights „Anna Karenina“ nur ein melodramatischer Kostümfilm.
Geplauder