In der kältesten Nacht aller Zeiten, einer Nacht, in der die Vögel im Flug erfrieren und tot zu Boden fallen, wird der kleine Jack in Edinburgh auf die Welt gebracht. Als Bastard und damit im Jahre 1874 von der Gesellschaft nicht akzeptiert, findet seine Geburt – wie die vieler andere unerlaubter oder unerwünschter Kinder – hoch auf einem Berg im Haus von Dr. Madeleine statt. Sie widmet sich den ungeliebten Kindern und schenkt jungen und alten Außenseitern der Gesellschaft Gastfreundschaft. Als uneheliches Kind wird auch Jack von seiner leiblichen Mutter verstoßen und lebt fortan bei Madeleine. Er sieht, wie andere Kinder adoptiert werden, während ihn jedes Ehepaar abstoßend findet. Denn Jack unterscheidet sich in einem Punkt von all den anderen Kindern bei Dr. Madeleine: Sein Herz schlug nach seiner Geburt nicht, weshalb Madeleine, die Spezialistin für künstliche Gliedmaßen ist, ihm eine Kuckucksuhr einsetzte. Ein mechanisches Herz, das – wird es nicht unter Kleidung versteckt – für alle sichtbar und vor allem auch hörbar ist. Und so wächst Jack auf in einer Welt der Andersartigkeit und des Außenseiterdaseins. Madeleine behandelt ihren Zögling wie ihr leibliches Kind, sorgt sich um ihn und schenkt ihm mütterliche Liebe. Die einzigen Freunde Jacks sind zwei Prostituierte und der Obdachlose Arthur. Alle zusammen bilden sie eine eigene kleine, ungewöhnliche Familie. Diese winzige Welt hoch auf dem Berg ist für Jack jedoch irgendwann nicht mehr genug – er möchte hinaus, in die Stadt, unter Leute, das Leben außerhalb Madeleines Haus kennenlernen. Nach langem Drängen erfüllt die Ziehmutter ihrem Sprössling diesen Wunsch zu seinem zehnten Geburtstag. Zu diesem Zeitpunkt ahnt keiner von beiden, dass dieser Tag das Leben der kleinen Familie für immer verändern soll: Während des Ausflugs in die Stadt verliebt sich Jack in eine kleine, stark kurzsichtige Tänzerin. Fortan kann er an nichts mehr denken, außer an ein Wiedersehen mit ihr. Er beginnt, zur Schule zu gehen, in der Hoffnung, ihr dort zu begegnen. Doch weder wird sein Wunsch wahr, noch die Schulzeit eine positive Erfahrung. Jacks Andersartigkeit macht ihn zur Zielscheibe von Spott und Bösartigkeiten, noch dazu handelt er sich gleich am ersten Schultag Ärger mit dem schlimmsten Typen der Schule ein – Joe, der wie Jack für die kleine Tänzerin schwärmt.

Nach Jahren voller Qualen in der Schule erhält Jack einen Hinweis über die Heimat der Tänzerin und macht sich auf den Weg nach Andalusien, wo ein neues Leben beginnt, das viel Gutes, aber auch Schlechtes bereithält. Doch immer wieder mischt sich Jacks Kuckucksuhrenherz ins Leben ein. Es erinnert ihn an seine Herkunft, seine Andersartigkeit und an Madeleines Warnungen: Liebe und andere Aufregungen könnten sein Uhrwerk durcheinander oder gar zum Stillstand bringen. Doch Jack ist bereit, diesen Wettlauf mit der Zeit einzugehen, um mit der Liebe seines Lebens vereint zu sein.

Mathias Malzieu hat eine Liebesgeschichte geschrieben, die ohne eitel Sonnenschein auskommt und immer wieder auf die Probe gestellt wird. Es ist eine Liebe voller Schmerz und Leidenschaft, eine Liebe, die früh keimt und von Anfang viel zu intensiv ist. Bedenkt man, wie jung die Charaktere zu Beginn ihrer gemeinsamen Geschichte sind, wirken die erotischen Gedanken Jacks zu erwachsen. Für den weiteren Verlauf der Geschichte ist diese Intensität jedoch maßgeblich und wird zum Charakteristikum der Liebe zwischen Jack und seiner Tänzerin Miss Acacia. Jedes Gefühl, ob gut oder schlecht, wird zu 100 Prozent ausgelebt, es wird geliebt und gestritten. Gewöhnlich ist diese Beziehung nie. Ob eine solche Liebe die Chance auf das ewige Glück haben kann, soll jeder Leser selbst herausfinden.

Acacia ist eine Figur, die keinen Leser gleichgültig zurück lässt. Sie ist eine Person voller Extreme, eine Person, die den Leser nur selten an ihre tiefsten Gefühlen und Gedanken hinein lässt. Das macht ihr Handeln nicht immer nachvollziehbar und sie als Charakter oft auch unsympathisch. Als Leser fällt es daher schwer, Jacks und Joes unsterbliche Liebe und Hingabe der Tänzerin gegenüber zu verstehen. Doch auch im wahren Leben ist die Liebe nicht immer etwas Nachvollziehbares, sie lässt sich nicht erklären und trifft, wen sie trifft, aus Gründen, die Außenstehende nicht immer erkennen. So verhält es sich auch in Malzieus Geschichte mit seinen sehr speziellen Charakteren.

Verhältnismäßig ruhig dagegen sind die Figuren Madeleine und Arthur gezeichnet, die voll elterlicher Liebe und voller Wärme sind. Obwohl sie nur Nebencharaktere sind, wachsen sie einem ans Herz und bei Jacks Abreise aus Edinburgh leidet man mit ihnen. Von allen Charakteren des Buches sind es wohl sie, zu denen man die stärkste Bindung aufbaut und deren Begleitung man während Jacks Leben in Andalusien sehr vermisst. Als neuen Freund Jacks in Andalusien hat Mathias Malzieu den Magier und Filmregisseur Georges Méliès in die Geschichte eingeflochten und sein Märchen so noch mehr in die Wirklichkeit geholt. Gleichzeitig entführt Malzieu seine Leser in die Anfänge des Films und lässt sie am Zauber der ersten Bewegtbilder teilhaben.

Stilistisch bewegt sich „Die Mechanik des Herzens“ stark zwischen Zauberhaftem und Realismus. Zu Beginn überwiegen wort- und bildgewaltige Schilderungen, die voller Märchenhaft-Geheimnisvollem und gleichzeitig voller Düsternis und Abstraktion stecken. Die Szenen erinnern an „Pinocchio“ oder „Edward mit den Scherenhänden“, sind voll skurriler Schönheit. Im weiteren Verlauf weicht diese mysteriöse Welt der ungeschönten Wirklichkeit und Jack eröffnet sich eine Welt voller Probleme, Schwierigkeiten, aber auch Alltag. Ganz wie im wahren Leben weicht auch in Jacks Welt mit zunehmenden Alter das Geheimnisvolle, das Kinder in der Welt sehen, das Zauberhafte und die Wirklichkeit holt einen zunehmends ein – eine Wirklichkeit, in der kein Platz zum Träumen ist.

Eines aber zieht sich konsequent durch Malzieus Buch: Die Andersartigkeit und seine Folgen – die Einsamkeit, angewiderte oder spöttische Blicke anderer, Missgunst und Ignoranz, die einem widerfahren. Dass gerade die „Makelhaften“ diejenigen sind, die oft das größte Herz haben oder die sympathischsten Personen sind, wird dabei immer wieder deutlich. So ist Mathias Malzieus „Die Mechanik des Herzens“ nicht nur ein Märchen über die Liebe, sondern auch eine Geschichte über Toleranz und Individualität. Sie macht Mut und Hoffnung, anders zu sein, sich nicht anzupassen und Makel nicht als Fehler zu sehen, sondern als Teil seines Selbst oder gar als Bereicherung.

Fazit:

„Die Mechanik des Herzens“ ist ein Geschichte voller Skurrilität und eine Ode an die Andersartigkeiten, an die „Freaks“ in der Welt. Ein düsteres Märchen, das sich mit Nichts auf dem gegenwärtigen Buchmarkt vergleichen lässt. Nicht immer ist alles Denken und Tun der Figuren realistisch bzw. altersgerecht, doch gilt dies auch für viele andere klassische und moderne Märchen. Mathias Malzieu hat ein sehr spezielles Buch geschrieben, für das man offen sein und auf welches man sich gänzlich einlassen muss.
Nicht unerwähnt bleiben soll das wunderbare Coverbild von Benjamin Lacombe, der Jack und insbesondere Acacia perfekt getroffen hat und dessen Stil für die Geschichte mehr als passend ist.

P.S.: Luc Besson plant eine animierte 3D-Verfilmung von „Die Mechanik des Herzens“. Das Musikalbum „La Mécanique du Cœur“, das Malzieu mit seiner Band „Dionysos“ auf Basis des Buches komponierte, erschien bereits im Jahr 2007.

Für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares bedanke ich mich ganz herzlich bei carl’s books und insbesondere bei Kathrin Arnold.