Bücher und Filme über das Dritte Reich thematisieren zumeist das Schicksal der Juden. Dabei litten noch viele weitere Bevölkerungsgruppen unter den Nationalsozialisten wie zum Beispiel die Sinti und Roma, Behinderte und Homosexuelle. Wie es Schwulen und Lesben in den 1930er und 1940er Jahren erging, darüber ist verhältnismäßig wenig bekannt. Michel Dufranne, Milorad Vicanović und Christian Lerolle haben mit der Graphic Novel „Rosa Winkel“ den Homosexuellen nun endlich eine literarische Stimme gegeben. Das Trio erzählt die Geschichte von Andreas. Der Berliner Werbezeichner Anfang 20 genießt das Leben und geht offen mit seiner Homosexualität um. Noch ahnen er und seine Freunde nichts von der braunen Bedrohung, die ihrer aller Leben bald verändern soll. Anfänglich sind sie von der nationalsozialistischen Propaganda dermaßen verblendet, dass sie Hitlers Ansichten sogar selbst vertreten. Doch mit jedem weiteren Jahr zieht sich die Schlinge auch um ihren Hals immer enger und der einst so fröhliche und lebenshungrige Andreas muss – zunächst im Gefängnis, später im Konzentrationslager – täglich ums Überleben kämpfen.

Heute, im 21. Jahrhundert, lebt Andreas in Frankreich, als plötzlich sein Urenkel Alexandre mit zwei Schulfreunden vor seiner Tür steht: Für ein Schulprojekt müssen die drei über den Nationalsozialismus recherchieren und möchten dazu Andreas‘ Erlebnisse hören. Für diesen ist die Erinnerung jedoch noch immer zu schmerzhaft … Genau hier unterscheidet sich die Graphic Novel erneut von anderen Erzählungen über den Holocaust: Andreas ist keineswegs bereit, das Erlebte mit anderen zu teilen, sondern möchte die Gräuel jener Zeit am liebsten vergessen. Autor Dufranne und die beiden Zeichner Lerolle und Vicanović läuten das letzte Kapitel ihrer Graphic Novel mit den Worten „Pflicht der Erinnerung – Recht zu vergessen“ ein und appellieren damit an einen Aspekt, der bei der Aufarbeitung der NS-Zeit oft viel zu wenig berücksichtigt wird: Nämlich, dass es zwar wichtig ist, die Geschehnisse aufzuarbeiten, die Erinnerung für die Opfer allerdings jedes Mal aufs Neue eine Qual ist. Zeitzeugenberichte sind wichtig, doch muss man jenen, die unter Hitlers Regime litten, die Möglichkeit lassen, das Erlebte auch einmal vergessen zu können. Betroffene haben ein Recht darauf zu schweigen; sie haben das Recht, ihr vergangenes Schicksal nicht immer wieder aufs Neue erleben zu müssen. Bei all der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich wird zu selten berücksichtigt, was die Erinnerung bei den Zeitzeugen bewirkt. Wer erlebt hat, dass seine ((Ur-)Groß-)Eltern über diese Zeit ihres Lebens bewusst schweigen oder höchstens nur vage Bruchstücke erwähnen und dass sie selbst fiktive Filme über diese Zeit aus Angst vor der Erinnerung meiden, versteht, warum die Aussage des Graphic Novel-Trios von solchem Gewicht ist.

Neben Inhalt und Botschaft überzeugt „Rosa Winkel“ auch grafisch: Panorama-Bilder sind mit gleichem Maß an Präzision und Detailreichtum gezeichnet wie Großaufnahmen und weisen viel Atmosphäre auf. Sehr bezeichnend ist jedoch die Farbgebung, die für jede Etappe in Andreas‘ Leben unterschiedlich gewählt wurde. Die Gegenwart kommt bunt und frühlingshaft hell daher, das erste Kapitel, welches die zunehmende Macht der Nationalsozialisten darstellt, ist dagegen in der NS-Farbe braun gehalten.

Mit Andreas‘ Ankunft im Konzentrationslager Sachsenhausen bis hin zum neu begonnen Leben in Frankreich ist das Geschehen schwarz-weiß festgehalten – lediglich die Kennzeichnung der homosexuellen KZ-Häftlinge, der Rosa Winkel, ist in Farbe abgebildet. Die inhaltliche Abgrenzung wird so von einer optischen begleitet, was die Graphic Novel gänzlich stimmig macht.

Fazit:
Michel Dufranne, Milorad Vicanović und Christian Lerolle haben mit „Rosa Winkel“ eine durch und durch hervorragend durchdachte Graphic Novel geschaffen, die optisch und inhaltlich überzeugt. Neben dem erzählerisch und grafisch so gelungenen Werk, kommt dem Trio zudem auch gleich in zweierlei Hinsicht eine Art Vorreiterrolle zu: Mit der Thematisierung des Schicksals der Homosexuellen während der NS-Zeit geben sie den Betroffenen endlich die viel zu lange unterdrückte Stimme, gleichzeitig gibt das Trio seinen Lesern aber auch eine Botschaft weiter, die in der Aufarbeitung der Geschichte bislang ebenso zu kurz kam wie die Aufarbeitung des Schicksals Schwuler und Lesben unter Hitlers Regime.