Mit 82 Jahren sitzt Georgy Jachmenev am Krankenhausbett seiner geliebten Frau Zoya. Erkrankt an Krebs und ohne Überlebenschancen rückt Zoyas Ende immer näher. Hier im London des Jahres 1981, fernab ihrer russischen Heimat, nimmt Georgy Abschied von seiner Frau, mit der er so viele Jahrzehnte seines Lebens teilte. In Gedanken lässt er seine gemeinsame Zeit mit Zoya Revue passieren: die Jahre in Frankreich und England, ihre letzte Reise, die Momente mit ihrer Tochter, Abende mit ihren wenigen, aber guten Freunden, all die schönen und schweren Zeiten, die Georgy und Zoya durchlebten. Aber erinnert sich auch an eine Zeit, die so weit weg, so unendlich lang her zu sein scheint: Seine Kindheit und Jugend in Russland. Aufgewachsen ohne elterliche Liebe in dem kleinen russischen Dorf Kashin nimmt sein Leben eine gravierende Wendung, als Georgy Jachmenev, der unscheinbare Fünfzehnjährige aus dem Dorf im Nirgendwo, dem Cousin des Zaren das Leben rettet. Nun soll er der persönliche Leibwächter für den Zarensohn Alexei Romanov werden. Fortan lebt Georgy im Winter Palais, der heutigen Eremitage, unter einem Dach mit den Romanovs. Er wird zu Alexeis Freund, lebt ein Leben, das er sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen  können – und erlebt die Liebe. Doch es ist die Zeit des ersten Weltkrieges und der Zar sieht sich immer mehr politischem Druck ausgesetzt. Bald kann die Zarenfamilie vor den Umständen in ihrem Land nicht mehr die Augen verschließen und die Situation wird immer auswegloser …

John Boynes Geschichte über die berühmten Romanovs ist eine Geschichte, die zwar auf historischen und politischen Ereignissen fußt, jedoch wird der Leser nicht mit Zahlen, Fakten und Namen erschlagen – der Autor schafft in erster Linie viel Atmosphäre und zeigt die lebensbedingungen auf, aber auch die Gedanken, Sorgen und Nöte, die sowohl Georgy als einfacher Bürger als auch die Zarenfamilie hat. Zar Nicholas II. und seine Frau Alexandra werden nicht einseitig als bedingslos zu verehrende Persönlichkeiten noch als oberflächliche, herzlose Herrscher aufgezeigt, sondern als Menschen mit Stärken und Schwächen. So wie sie haben auch alle anderen Charaktere – Georgy, Anastasia und Zoya eingeschlossen – sehr viel Tiefe und zeigen immer wieder neue Facetten. Das gilt sogar für die Nebencharaktere, die selbst bei kürzesten Auftritten sehr authentisch wirken.

Der irische Autor zeigt in „The House of Special Purpose“ einen gänzlich anderen Schreibstil als bei seinem Bestseller „Der Junge im gestreiften Pyjama“ – und dieser Stil ist dennoch genauso gut und packend! Boyne hat zwei Handlungsstränge kreiert, die parallel laufen: Georgys und Zoyas Zeit wird rückwärts erzählt, Georgys Lebensjahre in Russland, seine Zeit am Zarenhof läuft vorwärts – bis sich beide Geschichten treffen und in einem atemberaubenden, zutiefst emotionalen Moment münden. Dabei erklären sich vielen Dinge erst im Laufe der Geschichte, so werden zum Beispiel Ereignisse erwähnt, die erst etliche Seiten oder Kapitel später erklärt werden. Dennoch sind die Handlungen nie verwirrend oder schwer verständlich. Sehr schön an Boynes Erzählstil ist dabei auch, dass er besonders bedeutsame Geschehnisse nicht plakativ erzählt, sondern sie oft nur anklingen lässt, in den Moment hineinführt, das Ende aber allein im Kopf des Leser entsteht. So hat man als Leser genug Freiräume, um kurz abzuschweifen, das Gelesene nachwirken zu lassen, den Faden weiterzuspinnen, sich aber zu fragen: „Was wäre, wenn es sich nicht so, sondern so entwickelt hätte?“ Dennoch bleiben nie Fragen offen, alles ist logisch, vieles erklärt sich selbst. Der ganze Roman ist durch und durch stimmig.

Besonders gelungen ist John Boyne aber die Darstellung der Liebe: Zum einen ist da die sehnsüchtige Liebe, die Georgy und Zoya gegenüber ihrer russischen Heimat empfinden, die sie seit Jahrzehnten nicht gesehen haben. Zum anderen ist da die bedingungslose, aufopfernde Liebe zwischen Georgy und Zoya, die einen zutiefst berührt. „We are one person, you see. We are GeorgyandZoya.“, fasst Ich-Erzähler Georgy treffend zusammen. Ihre Liebe zueinander, besonders Georgys Liebe zu Zoya, ist in jeder Zeile so präsent und spürbar. Insgesamt schreibt John Boyne mit sehr viel Gefühl, aber auch mit viel Gespür für die sensiblen Themen, die im Roman auftauchen. Sehr bemerkenswert ist dabei, dass, obwohl so viel Emotion transportiert wird, der Text nie melodramatisch ist. Nichts wird dem Leser aufgedrängt, niemals offensichtlich auf die Tränendrüse gedrückt. Und dennoch passiert genau das: Während des Lesens packt einen die Geschichte immer mehr und mehr und man möchte, dass das Buch niemals endet. Nicht selten schleicht sich die eine oder andere Träne ins Auge. Das Buch ist keine leichte Kost – trotz des wunderschönen, flüssigen Schreibstils. Jedesmal, wenn man das Buch zuschlägt, ist man gedanklich noch lange bei Georgy und Zoya. Die Geschichte lässt einen nicht los, beschäftigt noch lange, nachdem man schon ein oder zwei weitere Bücher hinter sich hat.

Fazit:

John Boynes „The House of Special Purpose“ ist so perfekt und überwältigend, dass man es kaum in Worte fassen kann – einer der packendsten und bewegendsten Romane, die ich je gelesen habe! Man kann einfach nicht anders, als darin zu lesen und mitzufühlen, mitzuleiden. Es ist eine unfassbar traurige Geschichte, aber auch eine Geschichte, die zeigt, was die Liebe bewirken kann. Diese Geschichte muss jeden packen, der einen Funken Herz besitzt, jeden, der schon einmal liebe Menschen verloren hat oder jemals so eine tiefe, allesverzehrende Liebe empfunden hat.