Die Alzheimerkrankheit ist ein Thema, das in der Literatur gegenwärtig häufig aufgegriffen wird. Wenn ein Thema derart omnipräsent ist, werde ich dessen schnell überdrüssig, was in der Regel bewirkt, dass ich mich vorerst nicht näher damit beschäftigen möchte. Als ich kürzlich im Bookcrossing-Ständer meiner Uni-Bibliothek jedoch auf Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ stieß, konnte ich nicht anders, als das Buch mitzunehmen. Eine Stunde später saß ich zu einer Teepause in der Mensa und begann, zu lesen. Es dauerte keine 20 Seiten, bis ich merkte, dass ich hier ein ganz besonderes Werk vor mir liegen hatte!

„Der alte König in seinem Exil“ ist kein Roman, keine fiktive Geschichte über einen Alzheimer-Patienten – es ist die wahre Geschichte von Arno Geigers Vater August, bei dem sich die Krankheit in den 1990er Jahren schleichend ausbreitete. Lange bleibt die Erkrankung von der Familie unerkannt. Als die Aussetzer und Merkwürdigkeiten jedoch immer häufiger und ausgeprägter auftreten, steht die Diagnose fest. Die Erkrankung des Vaters sorgt in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren für etliche Veränderungen. Das Leben Arno Geigers und seiner Geschwister wird regelrecht auf den Kopf gestellt, plötzlich scheint sich alles nur noch um den Vater zu drehen und der Alltag hält für Familie und Pflegerinnen etliche Schwierigkeiten bereit. Oft ist es kräftezehrend und der Umgang mit den Aussetzern des Vaters muss erst angeeignet werden. Doch – und da liegt die Stärke des Buches – nicht alles ist schlecht oder anstrengend. Die Krankheit bringt die Familie enger zusammen und Arno Geiger lernt seinen Vater auf eine neue Weise kennen. Wie er den „neuen“ und den „alten“ August erlebt, schildert der österreichische Autor auf sehr aufrichtige und persönliche Weise. Er lässt uns als Leser sehr nah heran an seine Empfindungen, den Alltag mit dem Vater und Augusts Lebensgeschichte mitsamt aller schönen wie schmerzhaften, prägenden Erfahrungen. Arno Geiger portraitiert nicht August den Alzheimer-Patienten, sondern August den Vater, Ehemann, Sohn, Bruder, Kriegsgefangenen, den Mann, der sein Haus von Grund auf selbst baute und an die sich ändernden Umstände anpasste. Er beleuchtet nicht nur die Krankheit, sondern das Leben seines Vaters in seiner Gänze. Daraus ergibt sich ein derart vielschichtiges Bild über August Geiger, das man als Leser meint, ihn persönlich zu kennen. Auf diese Weise hat Arno Geiger seinen Vater quasi unsterblich gemacht und ihm ein besonderes, würdevolles Denkmal gesetzt. Doch vor allem erinnert „Der alte König in seinem Exil“ daran, dass Menschen sich durch Alzheimer zwar verändern, sie aber nicht über ihre Krankheit allein definiert werden dürfen. Jeder Alzheimer-Patient ist ein Mensch mit individuellem Charakter und individuellen Erfahrungen, nicht bloß Name und Symptome in einer Krankenakte.

„Der alte König in seinem Exil“ ist – in meiner Hardcover-Ausgabe des Hanser Verlages – gerade einmal 189 Seiten schmal und doch steckt so viel Leben, Diskussionsstoff und Philosophisches darin, dass man das Büchlein wahrlich als ein kleines Wunder beschreiben kann. Es berührt, regt an und lässt den Leser nur schwer wieder los. Somit bleibt mir am Ende lediglich ein Wermutstropfen, nämlich die Tatsache, dass ich es hier mit einem Bookcrossing-Exemplar zu tun habe, welches es wieder auf Reisen zu schicken gilt. Auf diese Weise kommen zwar auch andere Leser in den Genuss dieses kostbaren Büchleins, doch hätte die Geschichte des August Geiger einen dauerhaften Platz in den heimischen Bücherregalen verdient.

Fazit:

„Der alte König in seinem Exil“ ist wider Erwartens kein Buch über Alzheimer, sondern unsagbar mehr als das. Es ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der neben vielen anderen Erfahrungen und Eigenschaften eben auch die Erkrankung an Alzheimer aufweist. Es ist eine Geschichte über das Leben an sich, über die Familie, über ein Vater-Sohn-Verhältnis sowie über das, was uns Menschen im Leben prägt und ausmacht.

Arno Geiger: “Der alte König in seinem Exil”, Carl Hanser Verlag 2011, ISBN: 978-3-446-23634-9