Lucky_Alice Sebold

„In the tunnel where I was raped, a tunnel that was once an underground entry to an amphitheater, a place where actors burst forth from underneath the seats of a crowd, a girl had been murdered and dismembered. I was told this story by the police. In comparison, they said, I was lucky.“

(Alice Sebold: „Lucky“, Back Bay Books 2002, S. 3)

 

 

Dies sind die ersten Worte, mit denen Alice Sebold die Leser ihrer Memoiren konfrontiert. Sie sind offen, direkt, schonungslos – und bezeichnend für den Rest des Buches. Alice Sebold versteckt die Grausamkeit, die ihr angetan wurde, nicht hinter verhamlosenden Worten, sondern konfrontiert ihre Leser mit allem, was sie durchlebt hat.

Im Mai 1981 wurde Alice Sebold, damals 18-jährige Studentin der Syracuse University, von einem Fremden überfallen und vergewaltigt. Es ist ein Ereignis, das ihr Leben für immer prägen sollte und so ist es nicht verwunderlich, dass die Vergewaltigung das erste ist, dem die Leser in „Lucky“ ausgesetzt sind. Alice Sebold führt nicht erst behutsam in ihr Leben ein, sondern setzt uns Leser sofort über zehn Seiten hinweg der gesamten Brutalität aus, die ihr in dieser Nacht angetan wurde. Jeden Moment, jedes Wort, jede Handlung schildert sie uns detailliert. Macht- und sprachlos sitzt man als Leser vor diesen Seiten, sich fragend, wie schrecklich das Geschilderte für Alice Sebold sein musste, wenn allein das Lesen über die Vergewaltigung schon so schmerzt. Gleichzeitig kann man nicht umhin, als Alice Sebold dafür zu bewundern, dass sie die Kraft hatte, dieses traumatische Erlebnis niederzuschreiben und dadurch jeden Moment der Vergewaltigung in ihren Gedanken noch einmal zu erleben, wo dieses Ereignis sie doch schon im Alltag über Jahre hinweg regelrecht verfolgte! Denn aus der Studentin, Tochter, Schwester und Freundin Alice wurde plötzlich nur noch Alice das Vergewaltigungsopfer. Freunde wandten sich von ihr ab, da sie nicht wussten, wie sie mit Alice und der Vergewaltigung umgehen sollten; am Campus war sie DAS Gesprächsthema – jeder wusste von ihrer Vergewaltigung und kannte sie plötzlich.

Auch bei ihrer Familie konnte Alice Sebold nur begrenzt Halt finden: Zwar kümmerten sich ihre Eltern in den Wochen nach der Vergewaltigung so gut wie möglich um ihre Tochter, ließen sie tun, was sie mochte und versuchten, einfach für sie da zu sein, doch war die Familie Sebold nie sonderlich emotional: Zeichen der Zuwendung waren in der Familie stets selten. Als es später zum Prozess kam, in dem Alice auch ihrem Vergewaltiger gegenüber stehen sollte, wollte keiner ihrer Elternteile sie zu diesem wichtigen Ereignis begleiten – für sie glich es eher einer lästigen Pflicht, der sie lieber entkämen. Auch das Verhältnis zwischen Alice und ihrer Schwester Mary litt und die beiden schien nur wenig zu einen. Mary, die immer super Noten hatte, die an der Elite-Uni Princeton studierte, ein Fulbright-Stipendium erhielt und die Chance hatte, nach ihrem Studium nach Syrien zu gehen, konnte nicht den Job ergattern, den sie sich jahrelang wünschte, stattdessen landete sie in einer Gärtnerei. Obwohl dies im Vergleich zu Alices Vergewaltigung ein wahrlich geringes Übel ist, warf Mary ihrer Schwester an den Kopf: „Alice, you just don’t understand, everything comes so easily for you“ (S. 228). Es ist einer von vielen Momenten, in denen man als Leser fassungslos ist, denn es scheint, als wüsste niemand so recht, wie man sich gegenüber einem Vergewaltigungsopfer verhalten sollte. So wurde beispielsweise das Wort „Vergewaltigung“ in Alices Heimatort von niemandem ausgesprochen: Alle nannten es nur „die Sache, die Alice passierte“, „der Überfall“ oder nutzten ähnliche Wörter und Phrasen, die die Grausamkeit der Tat verschleierten. Alices Vater indes konnte nicht nachvollziehen, wie seine Tochter überhaupt vergewaltigt werden konnte, da der Täter sein Messer verlor, als Alice versuchte, sich von ihm frei zu kämpfen – für Alices Vater war es unbegreiflich, dass jemand ohne Zuhilfenahme einer Waffe jemanden vergewaltigen kann. Selbst die Polizisten gingen auf zum Teil verstörende Weise mit Alices Vergewaltigung um: Ein Officer, dessen Nichte einst Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde, ging in seiner eigenen Wut auf eine Gruppe von Studenten los, nur weil sie – wie Alices Vergewaltiger – schwarz waren. Ein anderer Polizist, der Alice direkt nach ihrer Vergewaltigung vernahm, machte ihr deutlich, dass sie ihm nur die Fakten nennen sollte und nicht die Details der Vergewaltigung: „the specifity of my rape did not matter, but only how and if it conformed to an established charge. Rape 1, Sodomy 1, etc. How he twisted my breasts or shoved his fist up inside me, my virginity: inconsequential“ (S. 31). Szenen wie diese haben mir als Leserin – und vor allem als Frau – immer wieder aufs Neue die Sprache verschlagen. Diese Szenen sind es allerdings auch, die deutlich machen, wie wichtig ein Buch wie „Lucky“ ist, wie wichtig es ist, offen über das Thema „Vergewaltigung“ zu sprechen. Und so kann ich nicht anders, als euch dieses Buch ans Herz zu legen. Es wird keine leichte Lektüre, aber dafür eine, die ihr nicht vergessen werdet!

Fazit:

Eines der aufwühlendsten Bücher, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe; ein Buch, das man trotz oder gerade wegen der darin geschilderten Grausamkeit nicht aus der Hand legen kann und das seine Leser auch nach Schließen der Buchdeckel noch lange beschäftigt.