Diebesgeflüster 4Ein Jahr ist es nun her, seit der Aeternica Verlag seine Kurzgeschichtenreihe „Diebesgeflüster“ startete. Inzwischen ist der vierte Band erschienen. Wie seine Vorgänger erzählt uns auch dieser vier Geschichten von Dieben in unterschiedlichsten Welten. Einer von ihnen ist Kalim, den wir bereits in Band 1 in Angelika Diems Geschichte „Das Grauen im Spiegel“ kennenlernten. In „Seelendieb“ lässt die Autorin ihren Helden sein Abenteuer fortsetzen – und dieses wird noch spannender und gefährlicher als das erste! Um seine Schulden zu begleichen bricht Kalim bei dem Magier ein, von dem er den Wolfszauber erwarb – und wird prompt erwischt. Doch statt ihn zu bestrafen, bittet man ihn um Hilfe. Kurz darauf findet er sich in einer anderen Welt wieder. Doch um aus dieser auch wieder heil herauszukommen, kommt es auf mehr als nur gute Fertigkeiten als Meisterdieb an, denn diese Welt hat schon so manchem Magier das Leben – oder besser gesagt: die Seele – gekostet. Die Schilderung dieser Welt ist Angelika Diem dabei wie schon in ihren vorangegangenen Geschichten unglaublich gut gelungen – man sieht und hört den Ort förmlich, spürt dessen düstere Atmosphäre und vor allem die ausgehende Bedrohung. Jede Sekunde rechnet man mit dem Schlimmsten, bis es am Ende zum kinoreifen Showdown kommt. Nach der ersten Kurzgeschichte in „Diebesgeflüster – Band 1“ war die Entwicklung, die Kalims Geschichte nun nimmt, nicht einmal ansatzweise zu erwarten. „Seelendieb“ ist damit nicht nur eine gelungene Fortsetzung, sondern vor allem eine großartige Weiterentwicklung – auch, weil Angelika Diem Kalims Welt in der ersten Kurzgeschichte bereits ausführlich beschrieb und die Fortsetzung sich nun stärker auf den Protagonisten und die eigentliche Handlung konzentrieren konnte. Mich persönlich fesselte Kalims jüngstes Abenteuer dadurch sogar noch mehr als „Das Grauen im Spiegel“.

Doch auch die drei anderen Kurzgeschichten sind durchweg überzeugend – jede versprühte ihren ganz eigenen Charme. Isabelle Wallats „Herz aus Gold“ beschäftigt sich mit einem Thema, das heute noch genauso aktuell wie vor Jahrhunderten ist: Menschenhandel. Protagonistin Nilim gilt als talentierteste und meistgesuchte Diebin – doch gerade sie sitzt nun in Gefangenschaft und soll als Sklavin verkauft werden. Nachdem sie für den Höchstpreis des Tages versteigert wurde, scheint es, als sei Nilims Schicksal besiegelt. Ihre Geschichte beginnt also wenig hoffnungsvoll. Ob Nilims Fertigkeiten sie und die anderen Sklaven retten können oder sie letztlich nur in noch größere Schwierigkeiten bringen, gilt es selbst herauszufinden. Verraten sei lediglich, dass Isabelle Wallat ihre Leser mit einem gekonnten Twist überrascht.

Eine große Wendung gibt es auch in Serena Hiranos „Ein Finger breit Magie“ – hier bildet sie jedoch den Auftakt zu einem magischen Erlebnis: Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 12-jährige Mara, die in der Hafenstadt Radon bei ihrem Onkel lebt. Das fantasiereiche, junge Mädchen verbringt einen Großteil ihrer Zeit damit, durch die Hafenstadt zu streunen und von Abenteuern zu träumen. Als sie eines Abends die Frau besuchen will, die alle nur Großmutter nennen, sieht sie sich einem solchen Abenteuer plötzlich ausgesetzt: Im Wald rennt ihr ein alter Seefahrer entgegen – auf der Flucht vor seiner eigenen Mannschaft, die unbedingt die Öllampe haben möchte, die er mit sich trägt. Er bittet Mara um Hilfe, konkret um ihre Magie. Völlig überrumpelt und mit der Gewissheit, dass die wütende Schiffscrew immer näher rückt, rennt Mara mit dem Seefahrer weiter durch den Wald und auf dessen Schiff zu – ohne zu wissen, was sie dort erwartet oder was der Seefahrer mit Magie meinte, denn die 12-Jährige verfügt schließlich über keinerlei Zauberkräfte. Oder etwa doch?! … Die junge Mara tut etliches, wovor uns Erwachsene früher stets warnten: im Dunkeln allein durch einen Wald laufen, einem Fremden vertrauen und mit diesem mitgehen. Doch „Ein Finger breit Magie“ ist trotz oder gerade deswegen eine tolle Abenteuergeschichte für Leser unterschiedlichen Alters. Die Erzählung erinnerte mich dabei an etliche Geschichten, die ich während meiner Kindheit geliebt habe und so war die Zeit, die ich mit Mara und dem Seefahrer in Radon verbrachte, eine kleine Reise zurück in meine literarische Vergangenheit.

Letztlich ist es jedoch Barbara Schinkos „Eine Locke vom Haar der Königin-unter-dem-Hügel“, das mich neben Angelika Diems „Seelendieb“ am meisten verzauberte. Barbara Schinko erzählt von Lucas, der die sagenumwobene Königin-unter-dem-Hügel aufsuchte und eine Locke ihres Haares stahl. Doch nachdem Lucas wieder jenseits ihres Reiches ist, findet sich in  seinem Beutel statt einer Locke nur Stroh. Also beschließt er, es erneut zu versuchen – sehr zur Sorge seiner Freundin Betsey. Doch ihm bleibt keine andere Wahl: Er hat es dem alten Macmillan versprochen – und sollte Lucas ihm die Locke nicht bringen, wird er dafür mit seinem Leben büßen. Barbaro Schinkos Geschichte erzählt von verführenden, übernächtlichen Mächten, von teuflischen Plänen, aber auch von der Liebe. Neben der Natur ist sie das prägende Element der Erzählung. Betseys und Lucas Beziehung ist dabei von einer tiefen, innigen Verbundenheit gekennzeichnet, von grenzenlosem Vertrauen und Aufopferungsbereitschaft. Es ist eine reife Beziehung, die auf Aufrichtigkeit und Freundschaft basiert, keine Hals-über-Kopf-Verliebtheit gängiger jugendlicher Romanfiguren. Das macht Betseys und Lucas‘ Liebe authentisch und als Leser wünscht man sich für die zwei sehnlichst einen positiven Ausgang. Dass diese Liebe jedoch der Grund für Lucas‘ derzeitige Situation ist, macht die Kurzgeschichte nur umso bewegender. Dabei ist erstaunlich, wie viel Barbarao Schinko ihren Lesern auch zwischen den Zeilen über ihre Charaktere und ihre Welt vermitteln kann. Am Ende haben sich Betsey und Lucas mehr in mein Herz geschlichen als manche Romanfiguren, die ich über hunderte von Seiten begleitete, weshalb es mich freuen würde, wenn die beiden Protagonisten irgendwann noch weitere gemeinsame Abenteuer erleben könnten.

Fazit:
Die Geschichten des vierten Bandes der „Diebesgeflüster“-Reihe könnten wieder einmal unterschiedlicher kaum sein. Doch jede von ihnen ist fesselnd, liest sich (viel zu) schnell weg und überzeugt durch – für die Kürze der Geschichten – gut ausgebaute Welten und Figuren. Dass mit „Seelendieb“ eine der Erzählungen an eine Kurzgeschichte des ersten Bands anknüpft, macht die Lektüre dieser Anthologie noch interessanter. Doch selbst wer „Diebesgeflüster – Band 1“ noch nicht kennt, kann unbesorgt zum vierten Teil greifen, denn „Seelendieb“ ist auch ohne das Vorwissen aus dem Vorgänger gut lesbar.

Für die Bereitstellung der Rezensionsdatei bedanke ich mich vielmals bei Angelika Diem!