Eines Abends klopft es an der Haustür der Familie Vilkas im litauischen Kaunas. Nein, es klopft nicht, es hämmert. Herein stürmt die NKVD. Die 15-jährige Lina, ihr zehnjähriger Bruder Jonas und Mutter Elena haben 20 Minuten Zeit, ihre wichtigsten Habseligkeiten zu packen. Dann werden sie von den russischen Offizieren verschleppt. Gemeinsam mit einer Vielzahl anderer Bewohner der Stadt werden sie in Güterzüge gepfercht und nach Sibirien deportiert. Ihren Waggon ziert der Schriftzug „Diebe und Prostituierte“. Warum sie so betitelt und unter Anweisung Stalins aus ihrer Heimat vertrieben werden, wissen sie nicht. Hunger, widerlich unhygienische Zustände, Angst, Krankheit, Schmerz und Tod werden schon bald zum Alltag für die Vertriebenen. Lina und ihre Familie fürchten um ihren Vater, der unabhängig von ihnen am gleichen Tag gefangen genommen wurde. Sie wissen nicht, wohin er gebracht wird und ob sie ihn je wiedersehen werden.
Nach mehreren Wochen kommen die Litauer in einem Arbeitslager an, wo die Lebensumstände kaum besser sind. Demütigung, Sorge und Not prägen die kommenden Monate. Nur wenige Lichtblicke gibt es und alles, was die Gefangenen am Leben hält, ist die Hoffnung. Doch gerade, als sich alle an ihren neuen Alltag gewöhnt haben, wird ein Teil von ihnen erneut verschleppt – dieses Mal hoch an den Nordpol, fernab jeglicher Zivilisation und Fluchtmöglichkeiten.
Jeder der Gefangenen geht auf unterschiedliche Art und Weise mit der Situation um. Lina findet Trost im Zeichnen. Ihr großes Vorbild ist Edvard Munch. Ihr Talent hat ihr sogar einen Platz in einem internationalen Zeichenkurs gesichert, den sie im kommenden Jahr, wenn sie 16 ist, besuchen soll. Dazu wird es nie kommen. Doch Lina malt um ihr Leben, mit allem was sie finden kann: Stöcker, Kohle, Schnee. Heimlich, denn würden die russischen Soldaten ihre Bilder sehen, würde man sie hinrichten. Aber Lina zeichnet nicht nur für sich, sondern auch für ihren Vater. Auf Taschentüchern und Zetteln hinterlässt sie grafisch versteckte Hinweise über ihre Aufenthaltsorte und Zustände. Da sie nicht weiß, wo ihr Vater ist, gibt sie die Geheimbotschaften auf gut Glück anderen auf den Weg. Taschentuch und Papier wandern von Hand zu Hand durch ganz Russland. Eine tolle Idee der US-Autorin Ruta Sepetys, die selbst litauischer Herkunft ist. Leider erfährt der Leser nie, ob die Botschaften ihr Ziel je erreichen, da die Geschichte aus Linas Perspektive erzählt wird. Es wäre interessant gewesen, die Reise der Zeichnungen weiter zu verfolgen. Schade, dass Ruta Sepetys diesen Kunstgriff nicht weiter ausgebaut hat.
Dafür wurden anderen stilistische Mittel gekonnt eingesetzt und bilden den roten Faden: Dazu zählen zum einen Linas Zeichnungen, die ein wichtiger Bestandteil ihres Wesens sind und durch die der Leser viel über das Mädchen erfährt. Zum anderen gibt es regelmäßige Rückblenden, die auch optisch durch ihre kursive Schrift von der Gegenwart abgegrenzt sind. Die Erinnerungen werden nicht wahllos hinein geworfen, sondern haben immer eine Verknüpfung zu einer aktuellen Situation. So sieht Lina in Sibirien beispielsweise Asche und erinnert sich an eine Situation, in dem sie ihrem Bruder Jonas das Munch-Bild „Asche“ zeigt und über dessen Kunst spricht. Diese kurzen Rückblenden sind oft alltägliche Dinge, die in dem gegenwärtigen Kontext manchmal eine gänzlich neue Bedeutung bekommen und Linas Leben vor der Deportation sehr lebendig machen.
„Between Shades of Gray“ erzählt auf berührende, recht ruhige Weise das Schicksal der Litauer. Ein Portrait der Zeit, der Geschehnisse. Eine Erinnerung an all die Leben, die Stalin zerstört hat. Ein wenig erinnert Sepetys‘ Debütroman an „So weit die Füße tragen“ (Josef Martin Bauer). Wird von dem zweiten Weltkrieg gesprochen, dreht es sich zumeist nur um die Verbrechen Hitlers. Dass Stalin keinen Deut besser war, wird dabei oft ignoriert. Von den sibirischen Gefängnissen wissen vergleichsweise wenige. Sepetys bringt – genau wie damals Bauer – ebendiese unerzählten Geschichten zu den Lesern und beleuchtet so das Schicksal, dass die baltischen Länder im zweiten Weltkrieg ereilte.
Die einzelnen Haupt- und Nebencharaktere sind dabei sehr fein gezeichnet. Jeder hat seine Bürde zu tragen, jeder seine eigenen Fehler und auch mal herzlose Gedanken. Die Autorin zeigt hervorragend auf, was die grausamen Umstände aus den Betroffenen machen. Vorurteile, Hass, aber auch Nächstenliebe, Unterstützung und Zusammenhalt prägen die Gruppe der Gefangenen.
Sepetys schafft es dabei, den Leser über die historischen und politischen Umstände zu informieren, ohne mit Fakten, Zahlen und Namen um sich zu werfen. Gleichzeitig zeigt sie schöne und furchtbare Momente, ohne überzudramatisieren oder jedes kleinste Detail zu nennen. Dennoch ist es ein bildlicher Erzählstil. Das Traurige und das Grausame wird weder übertrieben aufgedrückt noch heruntergespielt. Da selbst die Nebencharaktere dem Leser so nahe gebracht werden, wirken ihre Schicksale noch tiefer auf den Leser ein. Erschreckend ist zum Beispiel die kleine Janina, die mit ihrer Puppe spricht und immer wieder sagt, die Puppe hätte ihr etwas gezeigt oder verraten- obwohl ihre Puppe längst von den Offizieren zerstört wurde. Ein anderes Beispiel ist das Schicksal der jungen Mutter: Die Soldaten verschleppen sie und ihr Neugeborenes sofort nach der Entbindung. Das Kind stirbt kurz darauf. Als die Mutter dadurch dem Wahnsinn nahe kommt und nicht mehr aufhört, zu weinen, zögern die russischen Soldaten nicht: Sie erschießen sie und lassen sie eiskalt auf den Bahnschienen liegen.
Traurig zu sehen ist auch Linas Bruder Jonas. Die Geschehnisse gehen nicht spurlos an ihm vorbei – in seinem Wesen reift und altert er schnell, wirkt oft nicht mehr wie ein Kind. Was er mit seinen zehn Jahren sehen und erleben muss, sollte kein Kind in diesem Alter erfahren.
„Between Shades of Gray“ geht nahe, ohne künstlich auf die Tränendrüse zu drücken. Allein die wahren Begebenheiten, auf denen die Geschichte beruht, lassen den Leser das Buch am Ende nicht unberührt zuklappen.
Fazit:
Ruta Sepetys hat mit „Between Shades of Gray“ ein sehr bewegendes, aber authentisches Portrait der deportierten Litauer geschaffen, das die Verbrechen Stalins an unschuldigen Menschen aufzeigt, ohne jedoch kategorisch zu verurteilen. Liebevoll detaillierte Charaktere, die immer wieder neue Seiten von sich zeigen, gekonnt eingesetzte stilistische Mittel, eine niemals zu absehbare Handlung und ein leichter Schreibstil lassen die rund 340 Seiten lange Geschichte dabei wie im Flug vergehen.
In Deutschland erscheint Ruta Sepetys‘ „Between Shades of Gray“ am 24. August unter dem Titel „Und in mir der unbesiegbare Sommer“ beim Carlsen Verlag.
wow klingt ja richtig gut und faszinierend – da weiss ich ja, was demnächst auf meiner wunschliste steht ;-)
Mmh, es passt zwar nicht ganz in dein übliches Beuteschema ( ;) ) und ist jenseits von Kitsch, könnte dir aber sicher dennoch gefallen. Du kannst mich ja hinterher wissen lassen, ob es dir gefallen hat oder nicht, sobald du es gelesen hast :)
klar mach ich :-) jetzt wart ich erstmal auf meine neueste bücherbestellung – „room“ von Emma Donoghue :-) das klingt auf jeden fall auch ganz interessant :-) und dann müsste ich ja auch erst noch ein buch von falkner lesen und capotes „kaltblütig“ – also les ich ja nicht nur bücher mit nem leichten kitschfaktor ;-) sondern auch „ernste“ literatur :-)
Hehe, diesen Teil deines Bücherregals kenn ich ja noch gar nicht ;)
Ich habe eben erst einmal Onkel Google zu „Room“ befragen müssen. Das Buch klingt interessant und scheint ganz nach meinem Geschmack zu sein :D Es kommt sofort auf meine Wunschliste (Wird die denn nie kürzer?).
Du musst mir dann unbedingt deine Meinung zu „Room“ mitteilen – es klingt sooo vielversprechend, ein schön ungewöhnliches Thema… :) Ich bin gespannt, wie dein Fazit lautet und ob das Buch so gut ist, wie es scheint!