Nachdem ich von „My Sister’s Keeper“ so begeistert und überwältigt war, wollte ich einfach noch mehr von Jodi Picoult lesen. Daher musste ich auch sofort ihr aktuelles Werk „House Rules“ haben, welches sich wieder einmal mit einem eher unüblichen Thema auseinandersetzt: Autismus.

„House Rules“ ist die Geschichte von Jacob Hunt. Jacob lebt mit seiner Mutter Emma und seinem jüngeren Bruder Theo in Vermont. Jeden Morgen steht der 18-jährige Jacob pünktlich um 5.20 Uhr auf – auch in Ferien und an Wochenenden. Jeden Nachmittag um 16.30 Uhr schaut er seine Lieblingsserie „Crime Busters“. Alles in seinem Leben läuft geregelt ab. Eine feste Routine ist für ihn das A und O. Ist einmal etwas nicht nach Plan, kriegt Jacob Anfälle. Denn Jacob hat das Asperger Syndrom, eine Form des Autismus. Symptome sind neben dem erwähnten Drang nach Routine auch sehr ausgeprägte Sinne: Jacob ist empfindlich gegenüber Lärm, grellem Licht, mag keine Berührungen, reagiert auf jede Textur an seinem Körper. Gegen die Farbe Orange ist er quasi allergisch. Überhaupt spielen Farben eine wichtige Rolle in seinem Leben. So sind all seine Klamotten im Kleiderschrank nach den Farben des Regenbogens sortiert. Jeder Tag unterliegt einer speziellen Farbe – das äußert sich sowohl in Kleidung, als auch beim Essen. Alles in allem ist sein Leben also nicht gerade das, was man gemeinhin als normal bezeichnen würde. Doch das Symptom, das ihm die größten Schwierigkeiten bereitet, ist seine Unfähigkeit, das Verhalten anderer zu interpretieren. Jacob kann Körpersprache und Mimik nicht deuten. Wenn jemand beispielsweise aus Freude weint, ist dies für ihn nicht nachvollziehbar, da er Weinen nur mit Trauer assoziiert. Anderen Menschen kann er nicht in die Augen sehen und selbst Unterhaltungen sind ein Problem. Jacob ist nicht in der Lage Small Talk zu führen, sieht keinen Sinn darin, über das Wetter zu reden oder überhaupt mit jemandem zu sprechen, den er nicht mag. Außerdem versteht er alles nur wortwörtlich – Metaphern oder Redewendungen kann er nicht deuten.

Doch Jacob hat wie jeder Mensch auch Stärken. So ist er zutiefst ehrlich und befolgt Regeln akkurat. Und er hat eine Unmenge an Wissen. Sein Spezialgebiet ist die Forensische Analyse. Er weiß so viel über Verbrechen und ihre Aufklärung wie die Polizisten, kann Gesetzestexte und Begriffe wie aus dem Lexikon aufsagen. Zuhause stellt er Verbrechensszenen nach, die seine Mutter Emma dann versuchen muss, zu lösen. Und wenn in Vermont ein wirkliches Verbrechen geschiet, ist Jacob sofort am Tatort und hilft der Polizei beim Lösen des Falls.

Jacobs Asperger hat jedoch auch Auswirkungen auf seine Familie: Sein Vater verließ die Familie, weil er mit Jacobs Anfällen nicht zurecht kam. Mutter Emma schwelgt gedanklich hin und wieder in einem Leben, dass sie hätte führen können, wenn Jacob ein ganz normaler Junge wäre. Nicht selten fällt ihr dabei die Ironie ihres Lebens auf: Während sie vom Mann verlassen wurde und mit aller Macht versucht, ihren beiden Söhnen ein normales Leben zu bescheren, das für sie alles andere als einfach ist, schreibt sie Kolumnen für eine Zeitung, in denen sie anderen Menschen Ratschläge erteilt, wie sie ihr Leben leben sollen. Und Theo – der wäre eigentlich ein völlig normaler Junge, wenn nicht ganz Vermont seinen Bruder kennen würde. Denn dadurch ist Theo ein Außenseiter geworden: Niemand möchte etwas mit dem autistischen Jungen oder dessen Bruder zu tun haben. Für die anderen Schüler sind Theo und Jacob Freaks. Eines Tages beginnt Theo schließlich, in fremde Häuser einzubrechen. Jedoch nicht, um Wertsachen zu stehlen, sondern auf der Suche nach Normalität, nach einem Leben, wie es außer ihm scheinbar jeder führt. Dennoch ist es nicht Theo der urplötzlich im Januar 2010 verhaftet wird, sondern Jacob.

Jeden Dienstag und Sonntag trifft Jacob sich mit seiner Sozialkompetenz-Lehrerin, der Studentin Jess Ogilvy. Sie bringt ihm bei, wie man Konversation betreibt, wie man sich in bestimmten Situationen verhält und verhilft ihn zu einem Date für den Schulball. In all den Monaten erfährt Jacob aber auch, was es heißt, jemanden zu lieben. Je mehr Zeit er mit Jess verbringt, desto mehr verliebt er sich in sie – er, ein autistischer Junge, dem so etwas wie Liebe bisher doch fremd war. Dass Jess einen Freund hat, hält Jacob nicht davon ab, sie um ein Date zu bitten. Dadurch kommt es jedoch zum Streit zwischen Jacob, Jess und ihrem Freund. Zwei Tage später ist Jess Ogilvy tot.

Anfangs ist Jacob nur ein Zeuge und Feuer und Flamme, die Polizei bei Ihren Ermittlungen zu unterstützen. Doch kurz darauf entdeckt Emma in einem Fernsehbeitrag Jacobs Decke am Fundort der Leiche. Sofort kontaktiert sie die Polizei. Wenige Stunden später wird Jacob verhaftet.

In den laufenden Wochen und Monaten versucht Emma mit ihrem Anwalt Oliver Bond, der gerade erst die Uni beendet hat, alles, um Jacob vor einer Inhaftierung zu bewahren. Als alle Beweise gegen ihn sprechen und die Situation ausweglos erscheint, bleibt ihnen nur noch die Möglichkeit, Jacob zum Zeitpunkt der Tat als nicht zurechnungsfähig zu deklarieren. Es beginnt ein außergewöhnlicher Prozess, der die Nerven aller auf die Probe stellen soll…

Jodi Picoult hat eine interessante Geschichte kreiert und sich damit auseinandergesetzt, welche Folgen das Asperger Syndrom bzw. Autismus im Allgemeinen auf einen Prozess haben kann: Wie kann man über jemandem urteilen, der ständig Anfälle bekommt, der anderen nicht in die Augen sehen kann? Dinge, die typisch für Asperger sind, werden im Prozess plötzlich gegen Jacob verwendet und als Zeichen der Schuld interpretiert. Dabei hat Picoult es geschafft, das Buch nicht zu einem Gerichtsroman abdriften zu lassen, sondern das Porträt der Familie Hunt stets Kern der Handlung sein zu lassen. Die Darstellung der Charaktere erschien mir dabei jedoch gelegentlich zu einseitig: Besonders zu Beginn weisen sie kaum Tiefe auf, sind nicht gerade gut skizziert. Lediglich Theo kommt als vielschichtiger Charakter mit Stärken und Schwächen herüber, ist von Anfang an für den Leser greifbar und glaubhaft. Er und Anwalt Oliver stellen – zumindest für mich – die eigentlichen Sympathieträger der Geschichte dar.

Im Großen und Ganzen ist „House Rules“ eine gute Geschichte mit fantastischem Thema. Picoult ist es mehr als nur gelungen, dem Leser das Asperger Syndrom und dessen Auswirkungen auf das ganze Leben einer Familie nahe zu bringen, verständlich zu machen, was es heißt, mit Autismus zu leben. Leider ist das Buch etwas langatmig, besonders zu Beginn der Geschichte zieht sich alles sehr in die Länge. Ab der zweiten Hälfte des Buches ändert sich dies glücklicherweise und mit jeder weiteren Seite gewinnt die Handlung mehr an Fahrt. Die letzten 100 Seiten habe ich dann auch regelrecht verschlungen: Alles spitzte sich immer mehr zu und ich wollte endlich wissen, wie es endet, wollte wissen, was wirklich mit Jess Ogilvy an diesem kalten, verschneiten Dienstag passierte. Denn alles dreht sich schließlich nur um des Rätsels Lösung. Keiner weiß, ob Jacob sie getötet hat. Auch der Leser nicht. Die ganze Zeit über weiß der Leser, dass sowohl Theo als auch Jacob an eben jenem Dienstag bei Jess waren. Doch ob einer von ihnen für ihren Tod verantwortlich ist, bleibt unklar. Besonders Jacob als Hauptverdächtiger gibt dem Leser einige Rätsel auf: Warum hat er Jess nach ihrem Tod verschleppt und ganz offensichtlich mit seiner Decke umwickelt? Warum verhält er sich so eigenartig? Warum versuchte er, Spuren zu verwischen und legte gleichzeitig neue? Warum ist er mit solch einer Begeisterung beim Gerichtsverfahren dabei, statt vor dem Urteil zu zittern? Aber die größte Frage bleibt während des ganzen Buches: Warum erzählt Jacob niemanden, was an diesem Tag geschah? Dies ist das einzig Unrealistische an der Geschichte. Die ganze Zeit über versucht niemand, Jacobs Version zu hören, niemand glaubt an seine Unschuld – stattdessen wird von Schuld ausgegangen und versucht, ihn dennoch vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren. Keiner fragt, ob Jacob Jess ermordet hat, nicht einmal seine eigene Mutter versucht, dem auf den Grund zu gehen. Erst nach der Hälfte des Buches will Emma von Jacob wissen, ob er sie getötet habe. Darauf verneint er. Für sie ist das Thema damit erledigt. Einerseits glaubt sie an seine Unschuld, andererseits wird aber immer wieder deutlich, dass sie an ihm zweifelt. Weder sie noch Anwalt Oliver wollen die Wahrheit herausfinden. Für den Leser ist das dann doch ziemlich unbegreiflich. Denn wenn das eigene Kind wegen Mordes (oder eines anderen Verbrechens) beschuldigt wird, würde doch jede Mutter versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Den Sohn nach seiner Version der Geschichte zu fragen, wäre doch das erste, was eine Mutter tun würde. Nie würde sie es einfach so hinnehmen. Doch in „House Rules“ scheint niemand daran interessiert zu sein, was Jacob zu dem Fall zu sagen hat. Das hält zwar die Geschichte am Laufen – andernfalls wäre sie schließlich viel zu schnell vorüber -, ist aber eben alles andere als realistisch. Blendet man dies jedoch während des Lesens aus, kann man sich gut auf die Geschichte einlassen und dem Ende entgegenfiebern.

Fazit:

Picoults neustes Werk ist leider nicht ganz so fesselnd und bewegend wie „My Sister’s Keeper“ („Beim Leben meiner Schwester“). Doch auch wenn „House Rules“ nicht mit dem erfolgreichen Vorgänger mithalten kann, ist es dennoch eine durchaus gelungene Geschichte, die dem Leser die Autismus-Problematik leicht verständlich begreifbar macht. Das Buch hat seine Schwächen, birgt aber eine interessante Geschichte, die zum Ende hin ein regelrechter Pageturner wird. Wer außergewöhnliche, ernste Themen liebt, dem kann ich „House Rules“ daher mit bestem Gewissen empfehlen.