Etwa eine Woche ist es nun her, dass ich Henning Mankells Roman „Daisy Sisters“ las und noch immer bin ich hin- und hergerissen. Ich schätze Henning Mankell sehr, als Autor ebenso wie als sozial engagierten Menschen, und seine Bücher haben in meinem Regal einen angestammten Platz. In der Tat war Mankell sogar der erste Schriftsteller, den ich für mich als „Lieblingsautor“ betiteln konnte. Das heißt jedoch nicht, dass ich blind alles lobe, was er schreibt. Seinen Roman „Tiefe“ habe ich beispielsweise einst abgebrochen. Doch was mir nun mit „Daisy Sisters“ passierte, kannte ich im Zusammenhang mit Mankell-Lektüre bislang nicht: Ein Sich-Hingezogen-Fühlen von Mankells Kunst des Geschichtenerzählens und ein gleichzeitiges Abgestoßen-Werden von der unerträglichsten Protagonistin, der ich in diesem Lesejahr begegnet bin.
Doch von Anfang an.
Schweden im Jahr 1941. Die 17-jährige Elna trifft sich zum ersten Mal mit ihrer langjährigen Brieffreundin Vivi. Während der gemeinsamen Radtour fahren die „Daisy Sisters“, wie sich Vivi und Elna nennen, an die norwegische Grenze, wo sie zwei Soldaten kennenlernen. An einem Abend haben es die Männer darauf abgesehen, die beiden Freundinnen abzufüllen. Doch während Vivi den Alkohol recht gut verträgt und durchaus noch Herr ihres Körpers und Verstandes ist, setzt Elna der Alkohol extrem zu. Damit spielt sie den Plänen der Soldaten in die Hände und wird vergewaltigt. Es ist Elnas erstes Mal und sie wird prompt schwanger. Nach einem gescheiterten Abtreibungsversuch, der sie fast das Leben gekostet hätte, bringt Elna schließlich ihre Tochter Eivor auf die Welt. In ihr soll sich Elnas Schicksal wiederholen – und zwar mehr als einmal.
Als Jugendliche wird Eivor von ihrer ersten Liebe vergewaltigt, doch bleibt ihr eine Schwangerschaft erspart. Aber als sie Jahre später kurz davor steht, einen Job bei ihrer Traumfirma anzutreten, „vergisst“ ihr Freund Jacob, zu verhüten. Es ist das erste Mal, dass sie ungeschützten Geschlechtsverkehr haben – und natürlich wird Eivor schwanger. Statt des Traumjobs fristet sie nun als 19-Jährige ein Dasein als Hausfrau und Mutter, die nahezu nie die heimischen vier Wände verlässt und kein eigenes Leben mehr hat. Als Eivors Sohn älter ist, möchte sie die Verwirklichung ihres Traums nachholen. Jacob, mit dem sie inzwischen verheiratet ist (nicht aus Liebe, sondern wegen des gesellschaftlichen Anstands), erweist sich bei seinem Frauenbild jedoch als äußert rückständig. Damit Eivor nicht arbeiten gehen kann, sieht er nur einen Ausweg: Sie muss erneut schwanger werden. Also vergewaltigt Jacob seine eigene Frau. Auch dieses Mal wird sie schwanger.
Im Laufe der Jahre findet Eivor immerhin genug Stärke, um sich von Jacob scheiden zu lassen. Doch als sie ihre Jugendliebe (und damit ihren ersten Vergewaltiger) wiedersieht, lässt sie sich gutgläubig auf einen gemeinsamen Urlaub ein – der natürlich in einer gemeinsamen Nacht und einer weiteren ungewollten Schwangerschaft endet.
Ihr merkt schon: Elna und Eivor scheinen irgendwie das Pech gepachtet zu haben. Mir persönlich waren die Zufälle jedoch allzu zufällig und dadurch unglaubwürdig. Es ist weniger die Tatsache, dass beide Frauen vergewaltigt werden, sondern es sind vielmehr die Schwangerschaften, die mich die Geschichte irgendwann nicht mehr richtig ernst nehmen ließen. Eivor hat nur viermal in ihrem Leben ungeschützten Geschlechtsverkehr – und in drei dieser vier Fälle wird sie schwanger. Seien wir ehrlich: Wie wahrscheinlich ist das schon? Abgesehen davon hat mich Elnas Geschichte zwar sehr mitgenommen, doch konnte ich einfach keinerlei Mitgefühl für ihre Tochter Eivor aufbringen, denn für mich war sie von Anfang an einfach unausstehlich. Als Jugendliche und auch als Erwachsene provoziert sie ständig Streit mit Mutter Elna, beleidigt sie sogar – dabei tut Elna nie etwas Falsches und Böses, sondern versucht lediglich, ihrer Tochter zu einem besseren Leben zu verhelfen. Hinzu kommt, dass Eivor sich als Teenie zwar sehr rebellisch zeigt, aber nach dem Auszug aus der elterlichen Wohnung eigentlich überhaupt nicht weiß, was sie denkt oder will. Sie behauptet, von einem Job als Schneiderin in der großen Textilfirma Algots zu träumen und ist völlig davon überzeugt, dass sie diese Stelle auch bekommt. Doch tut Eivor sehr lange gar nichts, um diesem Traum ansatzweise näher zu kommen. Stattdessen betrinkt sie sich jedes Wochenende und fährt mit oberflächlichen Bekanntschaften sinnlos in einer Autokolonne Stunde für Stunde im Kreis um einen städtischen Platz. Sie hat keine wirkliche Meinung und wenn, versucht sie nicht einmal, diese durchzusetzen; sie trinkt und raucht, obwohl ihr das eigentlich gar nicht schmeckt; tut und sagt Dinge, die sie nicht möchte, nur weil es bequemer ist, anderen nicht zu widersprechen – nicht einmal bei der Freizeitplanung. Später, nachdem sie Mutter ist, entwickelt Eivor sich zwar ein wenig weiter, doch ist sie noch immer nicht in der Lage, für ihr eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen. Dass sie ihre beruflichen Träume nie verwirklichen kann, sieht sie allein in den Schwangerschaften begründet. Tatsächlich verbaut Eivor sich ihre Chancen auf Veränderung aber immer wieder auch selbst, indem sie allzu schnell irgendwelche banalen Ausflüchte sucht, mit denen sie jede Aussicht auf Weiterbildung oder gute Jobs beerdigen kann. Gleichzeitig ergibt sie sich widerstandslos den Launen der Männer: Die Männer, die ihr etwas bedeuten oder bedeutet haben, schlagen und vergewaltigen sie wieder und wieder – und was tut Eivor? Sie redet sich das schön, gibt sich selbst die Schuld oder nimmt sich vor, sich nicht mehr auf diese Männer einzulassen, tut es dann aber doch mit der Rechtfertigung gegenüber sich selbst, dass die Männer sich doch sicher geändert haben und dass das, was ihr angetan wurde, der Vergangenheit angehört. Ich weiß, diese Art Frau gibt es wirklich, doch wenn mir als Leserin das Schicksal eines Protagonisten nahe gehen soll, ich jedoch nicht einmal für einen winzigen Augenblick so etwas wie Sympathie oder Mitleid empfinde, sondern diese Person nur permanent wachrütteln möchte, ist das Lesen für mich eher mit Frust als Genuss verbunden. Zwischenzeitlich war ich von Eivor derart genervt, dass ich das Buch für mehrere Tage zur Seite legen musste, obwohl meine Neugier an diesem Generationenroman ungebrochen war.
Statt Eivors Geschichte zu lesen, die ca. 75 Prozent des Buches einnimmt, hätte ich lieber mehr über das Leben ihrer Mutter Elna erfahren oder den Lebensweg von Elnas Freundin Vivi verfolgt. Und ja, selbst über Elnas und Eivors Nachbarn, den Alkoholiker Anders, hätte ich gerne mehr gelesen – im Gegensatz zu Eivor hat der wenigstens einen wirklichen Charakter! Doch trotz dieses frustrierenden Leseerlebnisses würde ich „Daisy Sisters“ nicht als schlechtes Buch bezeichnen. Denn Henning Mankell schreibt auf gewohnt hohem Niveau und liefert sehr genaue Portraits von der Gesellschaft in den einzelnen Jahrzehnten, davon, was es heißt, in diesen Zeiten Frau zu sein, und nicht zuletzt Portraits der beiden Frauen Elna und Eivor. Wer also kein Problem mit charakterschwachen Protagonisten und allzu zufälligen Zufällen hat, der sollte zu „Daisy Sisters“ greifen. Für wen jedoch halbwegs sympathische Charakere eine Voraussetzung sind, um ein Buch genießen zu können, der sollte sich wohl besser anderen Lektüren widmen. Henning Mankell hat schließlich genug andere, bessere Bücher geschrieben.
Fazit:
Mit „Daisy Sisters“ hat Henning Mankell zwar erneut sein famoses Schreibtalent unter Beweis gestellt, doch macht Protagonistin Eivor das Lesen zu einer großen Geduldsprobe, die ich nur mit viel Mühe durchgestanden habe.
Henning Mankell: “Daisy Sisters”, aus dem Schwedischen übersetzt von Heidrun Hoppe, Deutscher Taschenbuch Verlag 2011, ISBN: 978-3-423-21288-5
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