“[…] what you end up remembering isn´t always the same as what you have witnessed.”

(Julian Barnes: “The Sense of an Ending”, Jonathan Cape 2011, Seite 3)

Von Literaturpreisen halte ich im Allgemeinen nicht viel. Insbesondere hier in Deutschland ist meist absehbar, welche Art von Werken oder besser gesagt, welche Inhalte zum Beispiel für den Preis der Buchmesse nominiert und ausgezeichnet werden. In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um Bücher, die von den wirklich leidenschaftlichen Lesern gelesen werden. Seien wir ehrlich: Nur den wenigsten Leuten sind die mit Preisen ausgezeichneten Autoren vor einer Nominierung ein Begriff, ihre Bücher werden meist erst dann gelesen, wenn sie einen Preis erhalten haben – und oft auch nur, um mitreden zu können. Abends, in eine Decke gekuschelt, greift man zu solchen Büchern in der Regel jedoch nicht.

Ich selbst halte mich auch lieber an Werke, deren Autoren ich kenne oder die mich aus anderen Gründen interessieren. Eine Auszeichnung animiert mich nicht zum Kauf, sondern hält mich zumeist sogar davon ab – eine persönliche Macke von mir. Eine Ausnahme gab es im Februar, als spontan Julian Barnes‘ „The Sense of an Ending“ in meinen Warenkorb wanderte. Im vergangenen Jahr wurde dieses Buch des britischen Autors mit dem „Man Booker Prize“ ausgezeichnet. Obwohl nur 150 Seiten dünn, verdient es diese Würdigung zu recht. „The Sense of an Ending“ zeugt von wahrem schriftstellerischen Können – sei es nun der Umgang mit stilistischen Mitteln oder die Skizzierung der Charaktere. Insbesondere Letzteres ist dem Briten großartig gelungen: Seine Figuren sind vielschichtig, alles andere als makellos, jede erweckt gewisse Emotionen und vor allem Meinungen beim Leser, entwickelt sich weiter und überrascht immer wieder. Dabei wirken sie so greifbar und authentisch. So hat man als Leser das Gefühl, mit am Tisch zu sitzen, wenn Protagonist Tony und seine Ex-Frau – die ein sehr aufrichtiges, freundschaftliches Verhältnis haben – im Café sitzen und über alles diskutieren und philosophieren. Man ist, wie man so schön sagt, mittendrin statt nur dabei. Selbst über Charaktere, die nur kurze Zeit auftauchen oder nicht viel über sich preisgeben, kann man sich als Leser ein sehr gutes Bild machen. Barnes gelingen so großartige, lebendige Darstellungen der Personen und dies auf nur 150 Seiten – in den meisten anderen Büchern auf dem aktuellen Literaturmarkt benötigt es für derart differenzierte und tiefgehende Charaktere weit mehr Seiten, manchen Autoren gelingt dies hingegen nie und sie versteifen sich auf oberflächliche, klischeebehaftete Figuren. Allein der Charaktere wegen ist „The Sense of an Ending“ vom schriftstellerischen Aspekt aus betrachtet also großartig.

„I know this much: that there is objective time, but also subjective time […] And this personal time, which is the true time, is measured in your relationship to memory. So when this strange thing happened – when these new memories suddenly came upon me – it was as if, for that moment, time had been placed in reverse.“

(Julian Barnes: „The Sense of an Ending“, Jonathan Cape 2011, Seite 122)

Protagonist Tony Webster hat ein gutes Leben geführt, bis er als Rentner von seiner Jugend eingeholt wird. Plötzlich muss er den Selbstmord seines damaligen Freundes Adrian sowie die einstige Beziehung zu seiner ehemaligen Freundin Veronica neu hinterfragen. Was hat Adrian, den Tony und seine Freunde einst so bewunderten, damals zu diesem Suizid gebracht? Was verheimlicht Veronica? Und was hat ihre Mutter mit Adrians Tod zu tun? Immer wieder durchforstet Tony seine Erinnerungen, setzt die Puzzleteile neu zusammen und muss feststellen, dass seine Erinnerungen an seine Schul- und Studienzeit nicht mit dem übereinstimmen, was damals geschah. Was ist tatsächlich passiert und was hat Tony sich falsch gemerkt? Hat er etwas Wichtiges vergessen oder übersehen? Hat er damals wirklich alles so erlebt, wie er glaubt oder spielte ihm sein Gedächtnis sein halbes Leben lang nur einen Streich? Und warum unterstellt Veronica ihm immer, dass er nichts versteht und auch nie verstanden hat? Warum ist sie so abweisend und lässt ihn unwissend stehen? Tonys Vergangenheit verlangt eine Menge Aufarbeitung – was nicht immer einfach ist. Auch der Leser bekommt dies zu spüren. Da die Geschichte von Tony erzählt wird, ist man als Leser stets auf dem gleichen Wissensstand wie er. Jedes Mal, wenn Veronica auf etwas anspielt, ist man ebenso verwirrt wie Tony. Man möchte sie schütteln und fragen, was ihr Problem ist, sie auffordern, einfach zu sagen, was geschehen ist. Doch Veronica lässt den Protagonisten und die Leser zappeln, macht Tony die Reise in seine eigene Vergangenheit alles andere als einfach, geschweige denn angenehm. So rätseln Tony und die Leser, setzen Erinnerungsfetzen immer wieder in neuen Kontext – nur um die erhoffte, neu gefundene Wahrheit kurz darauf wieder in Trümmer fallen zu sehen. Ständig neue, unerwartete Wendungen tragen ebenfalls dazu bei, dass man endlich hinter das große Geheimnis kommen möchte, das Veronica und Adrian umgibt.

Für seine ernste Geschichte nutzt Barnes dabei einen sehr leichtfüßigen, harmonisch-fließenden, aber dennoch sehr eleganten, künstlerischen Schreibstil. Tiefsinnige, philosophische Themen mit Raum für Interpretation und Diskussion prägen die Geschichte. „The Sense of an Ending“ ist daher trotz des geringen Seitenumfangs nichts für Zwischendurch und erst recht nichts für jene, die nur Unterhaltung suchen. Es ist stattdessen eine Geschichte für alle, die gern über das Leben grübeln oder sich von ihren Träumen und Gedanken hinwegtragen lassen. „The Sense of an Ending“ wird vielleicht nicht zum Lieblingsbuch eines jeden Lesers avancieren, doch es wird nachwirken.

Fazit:

„The Sense of an Ending“ handelt vor allem vom Erinnern, von Fehlinterpretationen, Missverständnissen, von zwischenmenschlichen Beziehung und der persönlichen Entwicklung, aber auch davon, sich selbst Fehler einzugestehen und die der anderen zu verzeihen. Julian Barnes hat ein Buch über das Leben an sich geschrieben – und dies mit viel sprachlichem, stilistischem Können und Tiefgang. Ein schriftstellerisches Kunstwerk, das ein Nachsinnieren erwünscht und erfordert.