Inhaltswarnungen / Content Notes
Das Buch thematisiert:
- Vergewaltigung
- Hass und Hetze
- Rechtsextremismus
- Gewalt
- Mord
- Rassismus
Als im Netz ein Video der als vermisst gemeldeten Schülerin Lena auftaucht und viral geht, ist das gefundenes Fressen für Rechte und Populist*innen: Das Video zeigt, wie Lena von mehreren Männern nicht-deutscher Herkunft vergewaltigt wird. BILD und Af*[1] springen natürlich sofort darauf an, um ihre rechte Hetze und Propaganda zu verbreiten und pauschal alle nicht-weißen Menschen unter Generalverdacht zu stellen.
Kommissarin Yasira Saad wird vom BKA – auch aus politisch- und gesellschaftlich-taktischen Gründen – mit dem Fall betraut, obwohl sie noch einen anderen Fall abschließen müsste. Während ihrer Ermittlungen stößt Yasira schnell auf immer mehr Ungereimtheiten: Wie kann es beispielsweise sein, dass in Lenas Kleiderschrank das Kleid hängt, das sie im Video trägt?
Doch egal, wie viel Zeit Yasira und ihr Team investieren, die Ermittlungen scheinen nur wenige Fortschritte zu machen. Für Yasiras Chef und die Öffentlichkeit zu wenig. Der Fall steckt voller Zündstoff und setzt alle unter Druck – umso mehr, als plötzlich weitere Videos auftauchen: Rechtsradikale verbünden sich zum „Aktiven Heimatschutz“ und kündigen in Videos Selbstjustiz und den Mord an den Tätern an; wenige Zeit später erscheint ein Video, in dem ein Mitglied des „Aktiven Heimatschutzes“ einen der vermeintlichen Täter ermordet.
In der Gesellschaft und im Netz beginnt zunehmend alles zu aus dem Ruder zu laufen und schon bald muss Yasira auch um ihr Leben und das ihrer Tochter bangen.
Mit „Views“ ist Marc-Uwe Kling ein hochaktueller und auf unangenehme Art realistischer Roman gelungen, der all das, was in den letzten Jahren gesellschaftlich und politisch passiert und was aktuell in Deutschland und den USA eskaliert, bündelt und auf den Punkt bringt. Kling zeigt auf, was leider zu viele noch nicht erkennen wollen: Wie Rechte und Populist*innen manipulieren, Opfer für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren, spalten, hetzen, Fakten verdrehen und lügen – und welche Rolle Medien dabei spielen. Dabei hat Kling sich keine fiktiven Partei- oder Mediennamen ausgedacht, sondern spricht klar aus, wer die Demokratie untergraben möchte.
Marc-Uwe Klingt zeigt dabei aber auch, wie fatal die Algorithmen der großen Plattformen, Desinformation, KI im Allgemeinen und Deep Fakes im Speziellen sein können. Und ja: Alles, was Marc-Uwe Kling hier beschreibt, ist kein Zukunftsszenario, keine Science Fiction, sondern längst technisch möglich und schon jetzt normal! Das Wechselspiel aus Online- und Offline-Geschehnissen ist in der Realität sogar noch viel stärker ausgeprägt und hat eine Dynamik, die Kling in „Views“ nur in abgeschwächter Form schildert.
Insgesamt greifen diese verschiedenen Aspekte in „Views“ so authentisch und glaubhaft ineinander, wie ich es bisher bei keinem zeitgenössischen Roman zu ähnlichen Themen erlebt habe. Lediglich das Ende kommt sehr „überrumpelnd“: Auf wenigen Seiten überschlagen sich die Ereignisse so sehr, dass kein Raum für die Lesenden bleibt, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. In kurzer Zeit löst sich einiges allzu leicht auf. Dadurch wirkt das Ende gehetzt und konstruiert, als hätte Kling sein Buch aus Zeitmangel schnell beenden müssen. Dadurch wird leider auch nur ein Teil des Falls gelöst und vieles bleibt ungeklärt.
Darüber hinaus stört mich an „Views“ sehr, dass Marc-Uwe Kling selbst Vorurteile reproduziert: Er lässt den Fall in Sachsen-Anhalt spielen und kurz zuvor war Yasira Saad für die Ermittlungen in einem Reichsbürgerfall in Thüringen involviert. Damit festigt Kling das öffentliche Bild, dass Rechtsextremismus vor allem ein „ostdeutsches“ Problem wäre, und trägt selbst zur Spaltung innerhalb der deutschen Gesellschaft bei.
Fazit:
„Views“ ist für jene, die sich regelmäßiger mit Social Media, Desinformation und der medialen Konstruktion von Wirklichkeit auseinandersetzen, nicht überraschend. Aber das muss das Buch auch nicht sein, denn es funktioniert gerade deshalb, weil es so vieles schildert, das uns leider sehr bekannt ist. Es bündelt, was aktuell auf politischer und gesellschaftlicher Ebene – nicht nur – in Deutschland passiert. Ich wünschte mir jedoch, Marc-Uwe Kling hätte das Ende noch etwas mehr ausgefeilt und auf Vorurteile gegenüber Ostdeutschland verzichtet.
Marc-Uwe Kling: „Views“, Ullstein 2024, ISBN: 978-3-550-20299-5
[1] Um die Suchmaschinen-Algorithmen nicht noch mehr mit dem Namen dieser faschistischen Partei zu füttern, wird der Name hier nicht vollständig genannt. Aber ihr wisst genau, wer gemeint ist.
Geplauder